Was dafür und was dagegen sprichtBefiehlt Wladimir Putin Ende Januar den Einmarsch in die Ukraine?
Die EU droht mit ernsthaften Folgen, auch Nato-Länder schlagen Alarm: Russland setzt seine Truppenbewegungen in Richtung der Ukraine unverändert fort.
Darum gehts
Russische Truppen und Kriegsgerät werden seit Oktober an der ukrainischen Grenze versammelt – so wie schon letzten April. Und so fragt man sich in Europa einmal mehr: Wird Putin dieses Mal in die Ukraine einmarschieren, so wie er es 2014 tat, als er sich die Krim einverleibte?
Am Donnerstag befassten sich die Staats- und Regierungschefs der EU mit der Frage. Sie warnen Moskau, dass «jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine massive Konsequenzen und heftige Kosten» haben werde. Moskau selbst weist Invasionspläne zurück, ohne Gründe für den Armeezusammenzug zu nennen.
Wieso versammelt Moskau seine Truppen?
Für den Kreml sind Staaten wie die Ukraine Teil der russischen Einflusssphäre. Deswegen fühlt sich Moskau bedroht, wenn sich diese Staaten zum Westen hin orientieren und der EU und Nato beitreten wollen. Für Moskau sind ein Beitritt der Ukraine zur Nato, die amerikanische Militärhilfe für das Land und die Militärübungen der westlichen Allianz in der Schwarzmeerregion inakzeptabel.
«Es geht vor allem um das Entstehen von Bedrohungen, die von diesem Territorium ausgehen könnten», so Russlands Präsident Wladimir Putin. Die USA und ihre Nato-Verbündeten würden die Ukraine als ein Aufmarschgebiet gegen Russland betrachten, in dem man irgendwann auch Raketen stationieren könnte.
Angriff ab Ende Januar 2022 befürchtet
Neue Bilder zeigen, dass der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze unverändert weitergeht. US-Geheimdienste schätzen, dass Russland bis im Januar eine Streitmacht von gut 175’ 000 Mann an der ukrainischen Grenze zusammenzieht. Derzeit sind hier bis zu 100’000 Angehörige der Bodentruppen sowie Einheiten von Luftwaffe und Marine stationiert. Einige dieser Truppen waren bereits bei der ersten russischen Militärintervention in der Ukraine dabei und kämpften 2014/2015 im Donbass. Beobachter befürchten, der erneute Aufmarsch seit dem Oktober könnte dazu dienen, alles Militärmaterial noch vor Anbruch des Winters richtig zu positionieren und einsetzbar zu machen. Der ukrainische Militärgeheimdienst befürchtet, dass Russland einen möglichen Angriff ab Ende Januar 2022 vorbereitet .

US-Satellitenbilder zeigen die schrittweise Massierung von russische Truppen, Panzern und Artillerie entlang der ukrainischen Grenzen.
via REUTERSFühlt sich Russland zu recht bedroht?
«Die russischen Anschuldigungen sind grösstenteils vorgeschoben», sagt André Härtel*, Politikwissenschaftler und Ukraine-Experte. Moskau behaupte zwar, die Nato würde sich nach Osten ausdehnen. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall.
«Die USA wollen sich aus Europa zurückziehen und sich auf den Indopazifik und die Hauptbedrohung Chinas konzentrieren. Und die EU, die zwar als stärkerer verteidigungspolitischer Akteur auftreten will, ist in Osteuropa traditionell extrem vorsichtig». Von daher sei das skizzierte Szenario des Kremls ein «erdachtes, eingebildetes Bedrohungsszenario».
Steht denn ein Nato-Beitritt der Ukraine zur Debatte?
Nein, zumindest nicht kurz- oder mittelfristig. Die Ukraine will der EU und Nato zwar beitreten, doch Beobachter halten das mittlerweile für ausgeschlossen. «Es gibt weder für einen Nato- noch für einen EU-Beitritt der Ukraine einen Konsens», sagt Härtel. «Das sind alles hehre Ziele Kiews, aber der Westen hat sich immer skeptisch geäussert und zurückgehalten. Es gibt hierfür weder Zusicherungen noch wurden Prozesse eingeleitet.»
Doch ist der Wunsch der Ukraine nach einem Bündnisbeitritt nachvollziehbar (siehe unten). Gerade in Osteuropa verstehen das viele. «Ich denke nicht, dass Russland irgendein Recht hat, zu sagen, wer der EU oder der Nato beitreten darf», sagt die Ministerpräsidentin von Nato-Mitglied Estland, Kaja Kallas.
«Wir werden keine Kompromisse eingehen, wenn es um das Recht der Ukraine geht, ihren eigenen Weg zu wählen», stellte am Donnerstag auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg klar. Die Ukraine sei ein «enger Partner» der Nato und diese Zusammenarbeit sei für beide Seiten wichtig. Die Partnerschaft sei «defensiver» Natur und stelle «in keiner Weise eine Bedrohung für Russland» dar, betonte der Norweger.
Was will Russland?
Mit dem Ausbau seiner militärischen Drohkulissen an der Grenze der Ukraine will Moskau das Land und den Westen zu Zugeständnissen drängen. Konkret fordert Putin rechtlich bindende Sicherheitsgarantien der Nato: Diese sollen eine Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis ausschliessen.
«Das ist das Paradoxe an Putins Politik», sagt Politikwissenschaftler Härtel. «Er will erreichen, dass der Westen sich an neue Regeln hält. Um das durchzusetzen, droht er mit einem Regelbruch, nämlich der Verletzung der Territorialität eines anderen Landes.»
Wie sieht die Lage für die Ukraine aus?
Das Land befindet sich in einer fragilen Situation. Vor der ständige Kriegskulisse bleiben wirtschaftliche Erfolge aus, fehlen Auslandsinvestitionen und hält der Braindrain, die Auswanderung, an.
Dazu wird die Ukraine mittlerweile an mehreren Fronten zugleich bedroht. «Wir sprechen von einem Destabilisierungs-Dreieck, da mittlerweile auch Belarus eine grosse Rolle spielt, das ja mittlerweile fast vollständig von Russland kontrolliert wird», sagt Härtel.» Kommt hinzu, dass die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine 1000 Kilometer lang und schwer zu kontrollieren ist.» Die Frage sei deswegen: «Was, wenn Lukaschenko es zulässt, dass russische Truppen direkt an diese Grenze verlegt werden?»

Ukraine im Zangengriff: «Wir sprechen von einem Destabilisierungs-Dreieck, da mittlerweile auch Belarus eine grosse Rolle spielt, das ja mittlerweile fast vollständig von Russland kontrolliert wird».
Wikimedia Commons/Niele/CC BY-SA 4.0Auch im Schwarzen und Asowschen Meer setzt Russland zunehmend auf Eskalation. Damit befindet sich die Ukraine nicht nur vom Norden und Osten, sondern auch vom Süden her in einem Zangengriff. Militär-Experten halten es denn auch für wahrscheinlich, dass ein allfälliger russischer Angriff gleichzeitig aus diesen drei Richtungen erfolgen würde.
Was spricht für einen Einmarsch Russlands?
Vor allem die Dynamik, die der Konflikt seit diesem Frühjahr angenommen hat. Die Nato und Russland sprechen offiziell nicht mehr direkt miteinander. Dazu funktionieren die Lösungsmechanismen nicht mehr: «Die Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie nehmen zu, beide Seiten setzen schwere Waffen und Drohnen ein und verstossen gegen das Minsker Zusatzabkommen von 2020» so Härtel. «Es ist eine völlige Konfliktphase, die durch zunehmende Eskalation und Destabilisierung gekennzeichnet ist.»
Dazu trägt auch die martialische Rhetorik aus Moskau bei, mit der der «Untergang» der Ukraine beschworen wird. Für den Kreml könnte jedoch schon ein territorial begrenzter Krieg attraktiv sein. Experten nennen etwa die Schaffung eines Landkorridors zur Krim, weil ein ukrainischer Gebietsstreifen die Halbinsel vom russisch kontrollierten Teil des Donbass trennt.
Was spricht dagegen?
«Aus meiner Sicht spricht mehr gegen einen Einmarsch», sagt Politologe Härtel. «Der Kreml verfolgt normalerweise eine berechenbare Politik der sogenannten strategischen Geduld. Das heisst, man geht keine zu hohen Risiken ein, sondern schaut, wie man seine Ziele mit relativ überschaubaren Kosten erreichen kann».
Auch sei die ukrainische Armee mittlerweile gut ausgestattet, so dass eine Invasion auch auf russischer Seite einen hohen Blutzoll fordern dürfte. Kommt dazu, dass der Streit um die Ukraine in Russland nicht sehr populär ist: «Es herrscht immer noch der Eindruck vor, dass man gegen ein Brudervolk kämpft, trotz der anhaltenden Entfremdung nach sieben Jahren», so Härtel. All das erschwere es, einen Einmarsch daheim erfolgreich verkaufen zu können. Härtel: «Die politischen Risiken sind fast unübersehbar. Ganz zu schweigen von den Folgen, die weitere Sanktionen des Westens nach sich ziehen würden.»
* Politologe und Ukraine-Experte André Härtel arbeitet für die deutsche Forschungseinrichtung Stiftung Wissenschaft und Politik, war einst politischer Berater beim Europarat und kehrte erst vor einigen Monaten von der Ukraine nach Deutschland zurück.

Vitali Klitschko am 4. September 2021.
REUTERSKlitschko: «Bereit, für mein Mutterland zu kämpfen»
Der einstige Boxer und heutige Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Vitali Klitschko, warnt vor einer russischen Invasion. «Wir bereiten uns in der ganzen Ukraine darauf vor, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Kriegsbefehl geben könnte», erklärte Klitschko in einem Gastbeitrag in der «Bild»-Zeitung.
«Als Soldat habe ich einst geschworen, das Land zu verteidigen, und bin auch jetzt bereit, für mein Mutterland zu kämpfen.» Er organisiere als Bürgermeister den Zivilschutz der Hauptstadt. Seine Behörden hätten bereits die Rekrutierung und Ausbildung von Reservisten der Territorialen Verteidigungsbrigade intensiviert.
Klitschko forderte dringend «internationale Unterstützung und militärische Hilfe». Die Ukraine liege im Zentrum Europas an der Grenze zu mehreren EU-Ländern. «Wir sind ein europäisches Land, das mehr denn je europäische Unterstützung braucht», betonte Klitschko. (gux/AFP)