Schwerbehinderte Kinder ans Bett gefesselt – «es ist der Horror!»

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Kinderheim in VietnamBehindert und ans Bett gebunden – so leben Kinder von Agent-Orange-Opfern

Unter der Tiktok-Community löst ein Video von ans Bett gebundenen, schwerbehinderten Kindern Entsetzen aus. 20 Minuten hat recherchiert und ist auf ein Heim in Vietnam gestossen. 

Dieses Video hat unter der Tiktok-Community Entsetzen ausgelöst. 

TikTok/nguoiimlang_92

Darum gehts

  • Ein Tiktok-Video ruft ungläubiges Entsetzen hervor. 

  • Kinder mit schweren Behinderungen liegen teils angebunden auf blankem Stahlrost. 

  • Es ist ein Heim in Vietnam  – und die Kinder sind Opfer des Vietnamkrieges und von Agent Orange. 

Das Tiktok-Video hat Entsetzen unter Usern und Userinnen aus aller Welt hervorgerufen. «Es ist schmerzhaft, so etwas zu sehen!», schreibt eine Nutzerin. «Ich verstehe nicht, warum manche Kinder an das Bett gefesselt sind? Und sie schlafen immer noch auf Stahllatten – Horror!». Eine andere schreibt: «Wie kann das 2023 passieren? Wo sind wir hier?»

Wir sind in Vietnam, wie die 20-Minuten-Recherche zeigte. Ein Bildervergleich ergab, dass es sich um das Heim Thien Duyen im Bezirk Cu Chi in Ho-Chi-Minh-Stadt handelt. Die Stadt in Süd-Vietnam hiess früher Saigon und spielte eine zentrale Rolle im Vietnamkrieg. Die Kinder aus dem Heim sind davon noch heute tragische Zeugen. Denn die meisten von ihnen sind von den Spätfolgen von Agent Orange betroffen.

«Kopf wie ein Hund, Hörner wie ein Wasserbüffel»

Das Entlaubungsmittel setzte die US-Luftwaffe auf Anordnung von Präsident John F. Kennedy zwischen 1962 und 1971 im Vietnamkrieg grossflächig zur Entlaubung von Wäldern und zur Zerstörung von Nutzpflanzen ein. Ziel war es, die Verstecke und Versorgungswege der feindlichen Vietcong aufzudecken. Es enthielt den chlorhaltigen Giftstoff 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD).

So kommen auch drei Generationen nach dem Einsatz viele Neugeborene in Vietnam mit schweren Fehlbildungen oder Erkrankungen zur Welt (siehe Box). Denn TCDD schädigt das Erbgut über Generationen und auch das ungeborene Kind im Mutterleib.

«Die Kinder werden nicht normal geboren. Einmal hatten wir ein Kind mit einem Kopf wie ein Hund», erklärt Nguyen Viet Hoan von der Agent Orange Association Vietnam im «Deutschlandfunk». «Ein andermal eines mit Hörnern wie ein Wasserbüffel. Manche kommen mit zwei Köpfen zur Welt. Diese Kinder überleben meistens nicht länger als 48 Stunden.»

Eine Million Dong monatlich, rund 40 Franken

Wer überlebt, benötigt intensive Pflege. Insgesamt sind heute etwa 300’000 Kinder in Vietnam betroffen. Womit wir beim zweiten Problem wären: Menschen mit Behinderung werden in Vietnam als Belastung gesehen. Hilfe vom Staat gibt es kaum: Eine Million Dong monatlich, umgerechnet rund 40 Franken, reichen für Verpflegung und Betreuung nicht aus. 

Mama Muoi (86): «Meine Kinder spüren meine Liebe für sie. Das ist mein Trost, mein grösstes Glück.»

Mama Muoi (86): «Meine Kinder spüren meine Liebe für sie. Das ist mein Trost, mein grösstes Glück.»

Screenshot VitenamNet

So können die Zustände im Thien-Duyen-Heim nicht wirklich überraschen. Erst recht nicht, da es privat geführt wird – von Frau Tran Thi Cam Giang, von allen Mama Muoi genannt. Sie ist 86 Jahre alt und hat sich vor 35 Jahren dazu verschrieben, Kinder mit Behinderung zu adoptieren. 

«Zu dieser Zeit habe ich nur fünf Kinder adoptiert», erzählt Mama Muoi in vietnamesischen Medien. «Die Kinder waren alle durch Agent Orange geschädigt, sodass sie behindert und gebrechlich waren.» Heute betreuen sie und ein kleines Team insgesamt 125 Bewohner und Bewohnerinnen im Heim, darunter 80 zerebral gelähmte Kinder. Firmen und kleine lokale NGOs besuchen das Heim von Zeit zu Zeit, spenden Lebensmittel und bringen Geschenke. Doch das reicht, das Tiktok-Video zeigt es, nicht aus. 

Staatliche Überprüfung geplant

Immerhin: «Das vietnamesische Ministerium für Arbeit, Menschen mit Behinderungen und Soziales plant, solche privaten Betreuungszentren in Kürze zu überprüfen», schreibt «Handicap International» auf Anfrage. Die NGO beteiligt sich in Vietnam an Massnahmen zur physischen Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen in medizinischen Einrichtungen. 

Bleibt zu hoffen, dass das Thien-Duyen-Heim auf die staatliche Visite hin nicht geschlossen, sondern umfassend unterstützt wird. Immerhin hat die 86-jährige Mama Muoi ihr Leben lang gegeben, was sie kann: «Ich weiss, dass die Kinder nicht verstehen, was ich sage», sagt sie. «Aber ich glaube, dass meine Kinder meine Liebe für sie spüren. Das ist mein Trost, mein grösstes Glück.»

Hast du schon von Agent Orange und seinen Folgen gehört? 

Diem Trong Toan, 41, ist ein Opfer von Agent Orange. Er wohnt bei seiner Mutter in der vietnamesischen Provinz Bac Ninh.

Diem Trong Toan, 41, ist ein Opfer von Agent Orange. Er wohnt bei seiner Mutter in der vietnamesischen Provinz Bac Ninh.

REUTERS

Die schrecklichen Folgen von Agent Orange

Direkte Folgen von Agent Orange sind neben den schweren Fehlbildungen auch über 20 Krankheiten. Etwa Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Wirbelsäulenspalten, Immunschwächen, Nervenleiden, Diabetes und Parkinson. Auch verschiedene Krebsarten gelten als Spätfolgen von Agent Orange. Der versprühte Giftstoff verbleibt sehr lange in der Umwelt und ist auch mehr als 45 Jahre nach Kriegsende noch in den Böden und Gewässern und somit im Nahrungskreislauf zu finden. Bis heute gab es keine Entschädigung für die vietnamesischen Opfer von Agent Orange, eine Klage wurde 2005 in den USA abgewiesen. 

In Vietnam leben laut der Konrad Adenauer Stiftung über 6,5 Millionen Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Sie werden sozial geächtet und alleine gelassen. Umso erwähnenswerter ist das spendenfinanzierte «Dorf der Freundschaft» in Hanoi. Es wurde vor 25 Jahren von einem ehemaligen US-Soldaten gegründet. Mehr als 120 Kinder, die an den Spätfolgen von Agent Orange leiden, sowie mehr als 600 Veteranen des Krieges werden hier jährlich versorgt. 

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