Offensive in Nordsyrien«Beide Seiten betreiben Kriegspropaganda»
In einer Broschüre prangert die Türkei kurdische Propaganda und Fake News an. Stimmt das? Ein Experte erklärt die Problematik objektiver Berichterstattung im Krieg.
Seit dem 20. Januar geht die türkische Armee gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in der syrischen Region Afrin vor, die eng mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK verbunden sind. Kritiker der «Operation Olivenzweig» werden von der Regierung verfolgt.
Auch gegen Kritik von aussen wehrt sich Ankara. Dazu hat die Pressestelle der Regierung in den vergangenen Tagen eine Broschüre veröffentlicht. In der Publikation mit dem Titel «Desinformationstätigkeiten gegen die Operation Olivenzweig» sind 17 Beispiele aufgeführt, wo Fotos gezielt in einem falschen Kontext verwendet und somit als kurdische Propaganda entlarvt wurden.
Den YPG wird in der Broschüre ausserdem vorgeworfen, Anschläge wie einen Raketenbeschuss auf eine «Moschee voller unschuldiger Zivilisten» verübt zu haben. Die Türkei hingegen gewähre mit ihrer Militäroperation gegen die syrische Kurden-Enklave Afrin «Sicherheit und Stabilität in der Region». Sie werde «äusserst umsichtig und sensibel» durchgeführt, «damit unschuldigen Zivilisten kein Schaden zugefügt wird».
Der deutsch-türkische Politikwissenschaftler von der Ruhr-Universität Bochum Ismail Küpeli schätzt die Publikation für 20 Minuten ein.
Herr Küpeli, wie ist diese Broschüre der türkischen Botschaft einzuordnen?
Die Broschüre will Falschmeldungen zu Ungunsten der türkischen Armee korrigieren. An der Bebilderung und den verwendeten Tweets ist nichts auszusetzen. Es gibt auch unabhängige Plattformen, die zum Ziel haben, Falschmeldungen aller Seiten zu korrigieren. Im Vorspann der Broschüre gibt es allerdings einige Dinge, die so nicht stimmen. Etwa dass die Offensive in Afrin auch zum Kampf gegen den IS dient. Der IS ist in Afrin aber nicht aktiv
Der Titel der Broschüre lautet «Desinformation» – inwiefern betreiben dies beide Konfliktparteien?
Das kann man direkt an den Zahlen der jeweiligen Verluste in diesem Krieg ablesen. Die Angaben der türkischen Armee und jene der Kurden widersprechen sich eklatant. Beide Seiten operieren mit Zahlen, die die eigenen Verluste niedriger darstellen – auf allen Ebenen. Die Angaben zu überprüfen, ist schwierig, weil vor Ort kaum unabhängige Journalisten arbeiten können. Dasselbe gilt für Bilder des Konflikts, die meist entweder von der staatlichen Nachrichtenagentur der Türkei oder dann von der kurdischen Seite erstellt werden. Insofern wird von beiden Seiten Kriegspropaganda betrieben.
In der Broschüre ist auch die Rede von der «richtigen Wahrnehmung des Kampfes». Was verspricht sich die Türkei davon? Gibt es «die richtige Wahrnehmung» in diesem Konflikt?
Eine richtige Wahrnehmung gibt es in dem Sinne nicht. Was wir in diesem Fall tun können: Die wenigen unabhängigen Quellen anschauen und daraus versuchen, ein Bild abzuleiten.
Die türkische Seite will, dass ihre Sicht der Dinge auch hier im Westen positiv ankommt und übernommen wird. Etwa indem die hiesigen Nachrichtenagenturen ihre Meldungen übernehmen, aber auch mit Publikationen wie der Broschüre. Das gelingt recht effektiv, denn kurdische Quellen werden – weil Kriegspartei – von der westlichen Presse nicht als gleichwertig anerkannt. Oft wird dabei übersehen, dass die staatliche Nachrichtenagentur nicht unabhängig ist und auch politisch eingesetzt wird. Ein kritischerer Blick bleibt oft aus – auch wieder, weil Journalisten vor Ort nicht unabhängig arbeiten können.
Die «Operation Olivenzweig» gewähre «Sicherheit und Stabilität in der Region», heisst es weiter – stimmt das, auch längerfristig?
Nein, weder mittel- noch längerfristig. Die Behauptung der Türkei, die Operation sei eine Reaktion auf vorherige Angriffe aus Afrin, muss man ohnehin mit einem grossen Fragezeichen versehen. Es gibt keine wirklichen Beweise dafür, dass kurdische Kräfte hinter den Angriffen auf die Türkei stecken. In Bezug auf die Sicherheit der Region würde ich sogar eher sagen, die Offensive ist ein Faktor, der zu weiterer Instabilität führt.
Ist die türkische Offensive völkerrechtswidrig?
Ich denke schon. Die offiziellen Argumente, der angebliche Angriff der Kurden und das Bemühen um Stabilität, greifen nicht. Der möglicherweise wirkliche Grund, in Afrin zu intervenieren, nämlich die Autonomieregion in Nordsyrien zu begrenzen oder gar zu zerschlagen, entbehrt meiner Meinung nach jeglicher völkerrechtlichen Legitimation.
Die Türkei selbst beruft sich auf ihre Rechte im Rahmen der UN-Resolutionen 1624, 2170 und 2178 zur Terrorbekämpfung und Notwehr – zu Recht?
Die Türkei hat ja explizit nicht den Weg über die UNO genommen, sondern einseitig interveniert. Dies auch im Widerspruch zu den Haltungen der meisten Staaten derzeit. Politisch gibt es für die türkische Offensive kaum Unterstützung. Es ist etwas fraglich, dass sich die Türkei auf UN-Konventionen bezieht, sie aber dann nicht miteinbezieht.
Können Sie das ausführen?
In den letzten Jahren war der IS in Syrien vor der türkischen Grenze aktiv und hat sich dort etabliert, ohne dass die Türkei eingeschritten wäre. Jetzt schreitet sie in Afrin, der letzten relativ friedlichen Region Syriens, ein. Auch deshalb ist die Argumentation des Antiterrorkampfes unglaubwürdig. Es würde nicht so vorgeschoben wirken, wenn das Land in der Vergangenheit schon intensiver gegen verschiedene Terrorgruppen vorgegangen wäre.
Gibt es Beispiele von manipulierter türkischer Kriegspropaganda?
Das Problem ist: Falschmeldungen und Bilder, die in einem völlig anderen Kontext erscheinen, als sie entstanden sind, sind in der türkischen Öffentlichkeit weit verbreitet – in der Politik, bei Kriegsparteien, selbst bei kritischen Journalisten. Zwischen Fake News und Kriegspropaganda zu unterscheiden, ist oft schwierig. Beispiele von Kriegspropaganda auf kurdischer Seite sind in der Broschüre drin. Wenn die Türkei behauptet, ihre Operation in Afrin richte sich auch gegen den IS, ist das ganz offensichtlich falsch – und insofern Kriegspropaganda. Es gibt Plattformen, die solche und allgemeine Falschmeldungen aufdecken und korrigieren. Sie haben aber nur geringe Reichweite.