Ukraine-Russland«Bidens Aussagen zur russischen Invasion sind provokativ und riskant»
An der ukrainisch-russischen Grenze häufen sich die kriegerischen Auseinandersetzungen. Ist das schon Krieg? Und was bewirkt die Rhetorik der USA? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Darum gehts
Die Situation in der Ostukraine ist weiter eskaliert. Täglich gibt es Hunderte Verstösse gegen die Waffenruhe, Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig Angriffe und den Tod von Soldaten und Zivilisten vor. Derweil sagte der amerikanische Präsident Joe Biden am Wochenende mehrmals, dass Russland in wenigen Tagen in der Ukraine einmarschieren. Womit ist zu rechnen? Die Experten Jeronim Perović, Professor für Osteuropa-Geschichte an der Universität Zürich, und Toni Frisch, langjähriger stellvertretender Deza-Chef, ordnen ein.
In der Ostukraine finden tägliche bewaffnete Konflikte statt. Hat der Krieg zwischen Russland und der Ukraine schon angefangen?
Nein. Denn diese kriegerischen Auseinandersetzungen finden seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 statt. Toni Frisch, der bis 2021 fast sieben Jahre lang regelmässig in die Ostukraine reiste, sagt: «Zum Teil wurden in den letzten Jahren täglich bis zu 2000 Waffenstillstandsverletzungen registriert. Es wurde in beide Richtungen geschossen.» Und Jeronim Perović sagt: «Dieser Konflikt dauert seit Jahren und trotz Waffenstillstand an. Nur haben wir das im Westen kaum registriert.» Allerdings gebe es jetzt ein «riesiges Eskalationspotenzial»: Weil im Osten der Ukraine viele ethnische Russen lebten, könnte Russland unter dem Vorwand, seine Landsleute zu schützen, einmarschieren.

«Auch 200’000 Soldaten reichen nicht, um ein Land wie die Ukraine zu besetzen.»
Wie gross ist die Gefahr, dass Russland in den nächsten Tagen in der Ukraine einmarschiert?
Die beiden Experten beurteilen diese Frage unterschiedlich. Zwar sind sie der Meinung, dass eine Invasion für Russland mit grossem Aufwand und Risiken verbunden ist. Er gehe nicht davon aus, dass das passiert, sagt Frisch. Denn: «Was hätte Putin davon? Er will die Ukraine destabilisieren, die Nato verunsichern und den Westen ins Rotieren bringen. Das hat er erreicht.» Laut Perović reichten zudem auch 200’000 Soldaten nicht aus, um ein Land wie die Ukraine zu besetzen. Der Truppenaufmarsch sei eine «maximale Drohkulisse». Allerdings: «Eine Drohkulisse ist nur glaubwürdig, wenn das Gegenüber tatsächlich davon ausgehen muss, dass Taten folgen.» Fazit: Russland wolle eigentlich keinen Krieg, aber der Kreml habe sich in die Situation hineinmanövriert, in der Krieg zu einem immer wahrscheinlicheren Szenario werde. Hinzu kommt laut Perović: «Putin berät sich mit einer Handvoll Personen, die meisten davon sind als Hardliner bekannt.» Den harschen Äusserungen Putins nach zu schliessen, müssten wir «mit dem Schlimmsten rechnen», sagt er. Auch die hohen Kosten einer Invasion werden Putin womöglich nicht davon abhalten.
Gibt es einen anderen Ausweg? Eine Einigung auf der diplomatischen Ebene? Müsste die Schweiz aktiv werden?
Laut Toni Frisch wäre Neutralität vielleicht ein Ausweg für die Ukraine. Das würde ein Verzicht auf einen Nato-Beitritt bedeuten sowie die Verpflichtung, sich aus Konflikten herauszuhalten. «Es ist gut möglich, dass Gespräche in diese Richtung schon geführt werden, auch unter Mitwirkung der Schweiz», sagt Frisch. Wichtige Absprachen fänden oft inoffiziell statt. Auch Jeronim Perović sagt: «Die Diplomatie läuft auf Hochtouren, sowohl offiziell als auch hinter den Kulissen. Das ist gut so. Endlich wird wieder miteinander gesprochen.» Laut Frisch könnte auch eine entmilitarisierte Zone in der Ost-Ukraine eine mögliche Konzession an Russland sein. Das Problem sei die Forderung der Krim-Rückgabe der Nato, was unrealistisch sei. Und wie Russland könne auch die Nato schwer hinter ihre eigenen Forderungen zurück, ohne das Gesicht zu verlieren.
Joe Biden sagt fast schon auffällig dezidiert, Putin werde in wenigen Tagen in der Ukraine einmarschieren. Was bewirkt diese Rhetorik?
Diese Äusserungen von Joe Biden sind hoch umstritten. Der womöglich kurz bevorstehende Krieg werde damit alles andere als verhindert, kommentiert die «Zeit». Doch das bedeute nicht, dass «Bidens Taktik» schlecht wäre. Laut Toni Frisch und Jeronim Perović ist sie jedoch sehr provokativ und riskant. Die USA wollten mit der Publikation von Geheimdienstinformationen einer russischen Invasion vorbeugen, sagt Perović. «Ob dies wirklich deeskalierend wirkt, wird sich weisen.» Frisch bezeichnet die Rhetorik aus dem Weissen Haus als «provokativ und hochriskant».

«Es ist gut möglich, dass unter Mitwirkung der Schweiz schon Gespräche zu einer neutralen Ukraine geführt werden.»
Wenn es tatsächlich passiert – wie muss man sich das vorstellen? Cyberwar oder Bodentruppen?
Beides. Die russische Armee könne mit Cyberangriffen die kritische Infrastruktur sofort lahmlegen. Gleichzeitig benötige es für einen Geländegewinn auch Füsse und Panzer, sagt Frisch. Es würde mit Artillerie, Raketen, «Stalin-Orgeln» und Panzern angegriffen. Der Krieg würde sowohl mit modernen als auch mit konventionellen Mitteln geführt. Und zuallererst werde Fehlinformation gestreut.
Es wird spekuliert, dass es zu einer «False Flag»-Aktion der Russen kommen könnte. Was bedeutet das?
Dass etwa in der Ukraine eingeschleuste russische Agenten die von prorussischen Kräften kontrollierte Ostukraine angreifen würden, sagt Jeronim Peroviç. Dann würde Russland diesen Angriff der Ukraine in die Schuhe schieben. Eine «False Flag»-Aktion wäre eine bewusst herbeigeführte Provokation, die Russland als Vorwand für einen Gegenangriff diente. Toni Frisch: «Ein solches Spiel gab es ja schon 1939 gegen Polen. Doch um eine glaubwürdige Anzahl Agenten dafür einzuschleusen, braucht es schon Einiges.»
Angenommen, es kommt zu einem Angriff. Wie lange dauert es, bis sich ganz Europa im Krieg befände?
Frisch sagt: «Selbst im Fall eines unwahrscheinlichen grossen Einmarsches würde wohl lediglich der östliche Teil des Landes besetzt. Es würde wohl gegen eine Million ukrainische Flüchtlinge in Europa geben und viele intern Vertriebene. Doch für eine Besetzung bräuchte es viel mehr Mittel als die immer wieder zitierten 100’000 Soldaten.» Auch Jeromin Peroviç beschwichtigt: Die Nato oder andere Länder würden nicht auf der Seite der Ukraine gegen Russland in den Krieg ziehen. Deshalb sei das Eskalationspotenzial hin zu einem grösseren europäischen Weltkrieg begrenzt.