SpitälerBis wann reicht das Spitalpersonal?
Rasante Ausbreitung des Coronavirus, krankes Personal, Patienten aus dem Ausland: Das Gesundheitspersonal dürfte schneller am Anschlag sein als erwartet.
Die Zahl der Coronavirus-Infektionen in der Schweiz stieg in den letzten Tagen ungebremst. Über 7000 Fälle waren am Sonntag zu beklagen. Während die Tessiner Spitäler bald an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt sind, ist die Lage in den restlichen Spitälern der Schweiz angespannt. «Die Spitäler befinden sich in einem Ausnahmezustand, wie wir ihn in der Schweiz noch nie erlebt haben», sagt Natalie Urwyler, Leitende Anästhesieärztin im Spital Wallis, zur «NZZ am Sonntag». Keiner könne sagen, wie schnell es gehen werde, bis alle Betten in den Intensivstationen besetzt seien. Das sind die Gründe dafür:
Rasantes Tempo
Antoine Flahault, Leiter des Instituts für Global Health an der Universität Genf, prognostiziert: Schreite die Zahl der Infektionen im Tempo der letzten zwei Tage voran, gebe es bis zum 27. März insgesamt 21'900 Corona-Fälle. «Ich hoffe, dass diese pessimistische Entwicklung nicht eintrifft und es in acht Tagen zu einer gewissen Abflachung der Kurve kommt», sagt Flahault. Grégoire Gogniat, Sprecher des Bundesamts für Gesundheit (BAG), betont, dass das BAG weiterhin auf steigende Fallzahlen aufmerksam gemacht habe. «In ungefähr einer Woche wird sich zeigen, wie die Massnahmen gewirkt haben.»
Erkranktes Personal
Bei der Inselgruppe haben sich bereits mehrere Mitarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt. Sowohl Ärzte als auch Pflegende seien betroffen. «Eine genaue Zahl kann man nicht nennen», sagt Sprecher Alex Josty. Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) bestätigt, dass schon Gesundheitspersonal, das auf Intensivstationen Corona-Patienten behandelt hatte, erkrankt sei. Dazu zählt auch Thierry Fumeaux, geschäftsführender Präsident der SGI und Co-Leiter der Intensivmedizin am Spital Nyon VD. «Wir machen alles, damit die Gefahr so klein wie möglich ist. Aber Ansteckungen können nie ausgeschlossen werden», sagt er.
Philip Tarr, Co-Chefarzt am Kantonsspital Baselland, berichtete kürzlich von erkranktem Gesundheitspersonal: «In einem Spätdienst musste ich drei Patientinnen anrufen, die alle im Gesundheitswesen arbeiten und positiv auf das Coronavirus getestet wurden: eine medizinische Praxisassistentin einer Hausarztpraxis, eine Krankenschwester in einem Altersheim, eine Angestellte in einer Spitalapotheke.» Auch Antje Heise, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Intensivmedizin, rechnet in der «SonntagsZeitung» damit, dass ein Teil des Personals ausfällt, weil es infiziert wurde. Die Stadt Zürich verortet gegenüber 20 Minuten «die grösste Herausforderung» bei der Verfügbarkeit von ausreichend Pflegepersonal in der Intensivmedizin.
Thierry Fumeaux warnt: «Das zu vermeidende Szenario ist, dass man nicht mehr genügend Intensivpflegeplätze und das hierzu notwendige Fachpersonal hätte. Und dazu könnte es kommen.» Betten und Beatmungsgeräte könne man kaufen und freie Räumlichkeiten auch schaffen. «Aber das notwendige Fachpersonal nicht. Die Pflegenden und Ärzte, die in einer Intensivpflegestation arbeiten, verfügen über eine mehrjährige, spezielle Ausbildung. Sie sind Spezialisten und besitzen Fähigkeiten, die man nicht in wenigen Wochen anlernen kann.»
Patienten aus dem Ausland
Im Sinne der humanitären Tradition und freundnachbarschaftlichen Nothilfe entschieden die drei Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Jura, jeweils zwei schwerstkranke Covid-19-Patienten aus dem Elsass aufzunehmen. Das Département Haut-Rhin hatte zuvor eine dringende Anfrage um Unterstützung gestellt, nachdem die Spitalkapazitäten insbesondere für beatmungspflichtige Patienten im Nachbarland ausgeschöpft waren.
Patienten aus dem Ausland aufzunehmen, könne noch bis zu dem Zeitpunkt akzeptiert werden, solange in den Schweizern Spitälern noch ausreichend Bettenkapazität vorhanden sei, sagt Fumeaux. Man müsse es sich aber gut überlegen: «Wenn jemand mit Covid-19 auf die Intensivstation eintritt, wird er dort bis zu 15 Tage behandelt. Das kann rasch zu einem Schneeballeffekt führen.» Die Unterstützung stösst auf Twitter vereinzelt aber auch auf Kritik. «Haben wir nicht genug eigene Schweizer Patienten?», schrieb jemand.
Grenzgänger
«Wenn unsere Nachbarländer Grenzgänger, die im Schweizer Gesundheitswesen arbeiten, bei sich selber einsetzen würden, wäre das gravierend», sagt Fumeaux. Auf den Intensivstationen arbeiteten viele Leute aus Italien, Deutschland und Frankreich. «Hat die Schweiz plötzlich weniger Personal, hat man auch weniger Kapazitäten für Corona-Patienten. Dass es so weit kommt, halte ich aber für unrealistisch.»
Wie lange reichen die Betten aus?
Antoine Flahault rechnet anhand seines Modells vor, dass in acht Tagen 2300 Akut- und 770 Intensivpflegebetten nötig werden. Im Schnitt müsse ein Patient beim Coronavirus 14 Tage lang beatmet werden, sagte Philip Tarr, Co-Chefarzt am Kantonsspital Baselland (Bruderholz), kürzlich. «Das ist sehr lange, weshalb es viele Geräte und viel Personal braucht.» Die Stadt Zürich rechnet gemäss einem internen Lagebericht damit, dass wegen des Coronavirus die Beatmungsplätze «bereits in wenigen Tagen» äusserst knapp seien.
Auf den Intensivstationen stehen laut der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin zurzeit zwischen 950 und 1000 Betten zur Verfügung, die in aussergewöhnlichen Situationen an zahlreichen Standorten aufgestockt werden können.
Die Zahl der Intensivpflegebetten könne um die Hälfte auf rund 1200 erhöht werden, sagt Michael Jordi, Generalsekretär der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK). «Man versucht alles Menschenmögliche zu tun, damit man die Kapazitäten der steigenden Nachfrage anpassen kann.» In den Schweizer Universitäts- und Regionalspitälern gebe es noch Kapazitäten, und es würden laufend welche geschaffen. «Das Personal, das keine Wahleingriffe mehr machen darf, hilft mit.»
Jordi rechnet jedoch damit, dass die grosse Masse der Corona-Fälle gar nie die Spitalschwelle erreicht. «Es sind vor allem die Hochrisikopatienten, die intensivpflegerische Betreuung nötig haben.» Auch Daniel Koch, Leiter Übertragbare Krankheiten beim BAG, sagte an der jüngsten Medienkonferenz, es gebe genügend Betten, auch in den Intensivstationen. «Obwohl diese nach wie vor auch Patienten belegen, die nicht am Coronavirus erkrankt sind.»