«Bis zu zehn Prozent aller Betroffenen sterben»

Aktualisiert

Magersucht«Bis zu zehn Prozent aller Betroffenen sterben»

Ausgerechnet in einer der entscheidendsten Entwicklungsphasen - der Pubertät - eifern einige Jugendliche einem verzerrten Schönheitsideal nach. 20 Minuten Online sprach mit einer Ärztin, die Anorexie-Patienten im Unispital Zürich betreut, über die langfristigen Auswirkungen einer Magersucht und wo Betroffene Hilfe bekommen.

von
Runa Reinecke

Gabriella Milos ist leitende Ärztin an der Psychiatrischen Poliklinik in Zürich. Sie hilft magersüchtigen Patienten - die meisten davon Frauen - im Kampf gegen ein schweres, von vielen Betroffenen und deren Umfeld unterschätztes Leiden: die sogenannte Anorexie oder Magersucht.

20 Minuten Online sprach mit der Medizinerin über die Auswirkungen, die eine längerfristige Unterernährung mit sich bringen kann.

20 Minuten Online: Gibt es den oder die typische Magersüchtige/n?

Gabriella Milos: Mehrheitlich sind Mädchen und Frauen von der Krankheit betroffen. Sie fallen oft als äusserst perfektionistisch auf, halten sich an Details fest, während sie die wirklich wichtigen Dinge im Leben häufig vernachlässigen. So dreht sich beispielsweise alles nur um das, was sich auf dem Teller vor ihnen befindet. Familie, Beziehung, Ausbildung, Arbeit, Wohnen und andere Schwerpunkte des Lebens bleiben oft auf der Strecke. Hierzu gab es eine interessante Studie: Betroffene wurden gebeten, eine komplexe Figur abzuzeichnen. Auf der aus dem Gedächtnis gezeichneten Figur war zu sehen, dass sich einige selektiv wahrgenommene Details wiederfanden. Doch das Bild als Ganzes wurde nicht abgezeichnet. Bei gesunden Probandinnen hingegen war der grobe Umriss vorhanden und Details hatten sekundäre Bedeutung.

20 Minuten Online: Wissen die Betroffenen, dass sie krank sind?

Gabriella Milos: Das ist unterschiedlich. Während die einen spüren, dass sie ernsthaft krank sind, sind andere völlig uneinsichtig. Dabei ist die Einsicht sehr wichtig, denn nur so kann der Betroffene Hilfe annehmen. Viele Menschen mit Essstörungen sind der festen Überzeugung, ein gesundes Leben zu führen. Sie haben oft eine falsche Vorstellung davon, was eine ausgewogene Ernährung überhaupt ist.

20 Minuten Online: Gibt es typische Auslöser für diese Krankheit?

Gabriella Milos: Wir müssen bei dieser Erkrankung eine genetische Disposition voraussetzen. Die auslösenden Faktoren sind unterschiedlich: Sie reichen von Stress über Diäten und Infektionen bis hin zu Komplikationen, die bis zur Geburt oder dem Säuglingsalter zurückreichen. Dazu gehören ein niedriges Geburtsgewicht oder Fütterungsschwierigkeiten im Babyalter. Diese Problematik wurde bereits wissenschaftlich untersucht.

20 Minuten Online: Kann ein/e Patient/in langfristig von dieser Form der Essstörung geheilt werden?

Gabriella Milos: Eine Magersucht geht häufig in einen chronischen Verlauf über. Gross angelegte Studien haben gezeigt, dass immerhin 50 bis 70 Prozent geheilt werden können. Wie gefährlich die Anorexie ist, zeigt die hohe Mortalitätsrate: Sie liegt – je nach Studienbericht – zwischen sechs und zehn Prozent. Je länger der/die Patient/in keine Besserung seines/ihres Zustandes erreicht, desto höher ist das Risiko, an den Folgen dieser Erkrankung zu sterben. Deshalb ist es sehr wichtig, sich möglichst früh an eine Fachstelle – zum Beispiel an die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen - zu wenden.

20 Minuten Online: Gibt es typische Begleiterscheinungen einer Magersucht? Inwiefern kann der Körper eines/einer Magersuchtpatienten/in dauerhaft geschädigt werden?

Gabriella Milos: Die Magersucht beginnt meist noch während der Wachstumsphase – also im Kindes- oder Teenageralter. Diese Zeit ist besonders für den Knochenaufbau wichtig, da die Knochenmasse normalerweise bei Frauen noch bis zum 25. bis 30. Lebensjahr aufgebaut wird. Die Psychiatrische Poliklinik hat zu diesem Thema Studien durchgeführt. Die Ergebnisse sprechen für sich: Schon ein sechs bis zwölf Monate andauerndes Untergewicht kann die Knochenmasse und -struktur nachweislich schädigen. Frauen, die an Ess-Brech-Sucht leiden, müssen ausserdem mit einer Schädigung ihrer Zähne rechnen, da der Zahnschmelz durch den regelmässigen Kontakt mit Magensäure stark angegriffen wird.

Auch Organe wie die Nieren oder die Leber können langfristig in Mitleidenschaft gezogen werden. Bei Frauen, die seit vielen Jahren unter Magersucht leiden, kann es zu einer Gehirnatrophie (Hirnschwund) kommen, was mit kognitiven Einschränkungen einhergehen kann. Bei einer weniger lang anhaltenden Anorexie kann dieser Prozess durch die Normalisierung des Gewichtes rückgängig gemacht werden. Neben organischen Schädigungen sind aber auch die psychischen Folgen dramatisch: Viele Patienten leiden unter Ängsten, Depressionen und Stimmungsschwankungen. Einige finden den Weg ins normale Leben nicht mehr und rutschen dauerhaft in die Invalidität ab.

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