Steigende FallzahlenBrauchts die Maskenpflicht auch in Schweizer Stadtzentren?
Der Anstieg der Corona-Infektionen und die Aussicht auf Grossanlässe beunruhigt Fachleute. Sie raten dazu, die Maskenpflicht schnell in der ganzen Schweiz auszuweiten.
Darum gehts
- Infektiologen empfehlen, die Maskenpflicht zu verschärfen.
- So etwa in Stadtzentren, beim Einkaufen oder in Restaurants, wenn man nicht am Tisch sitzt.
- Der Vorstand der Gesundheitsdirektorenkonferenz rät den Kantonen, bei hohen Fallzahlen eine Maskenpflicht für Läden zu erlassen.
274 Neuinfektionen innert 24 Stunden meldete das Bundesamt für Gesundheit am Mittwoch – so viele wie seit dem 19. April nicht mehr. Zugleich kündigte der Bundesrat an, ab Oktober unter Auflagen wieder Massenveranstaltungen mit mehr als 1000 Leuten zuzulassen.
Infektiologe Philippe Eggimann, Präsident der Westschweizer Ärztegesellschaft, sagt, die Schweiz sei an einem kritischen Punkt: «Das Contact-Tracing stösst bald an seine Grenzen.» Mit der Ferienrückkehr und der Wiedereröffnung der Schulen könne sich das Virus wieder schneller verbreiten.
Nationale Maskenpflicht?
Er rät der Politik, Massnahmen zu ergreifen, um eine Explosion der Fallzahlen und einen neuerlichen Lockdown zu verhindern: «Alle Kantone sollten nun eine Maskenpflicht in den Läden und den Schulen erlassen.» Inzwischen wisse man, dass auch Kinder ab 10 Jahren Träger des Virus seien, selbst wenn sie keine oder nur schwache Symptome zeigten.
Eggimann betont, dass es in der Wissenschaft einen Konsens gibt, dass Masken nützen – auch das BAG hat die Kantone aufgefordert, die Maskenpflicht auszudehnen. «Nur eine Pflicht führt dazu, dass die Leute die Maske tragen und nicht schief angeschaut werden.» Eggimann empfiehlt zudem, im Zentrum der grösseren Städte eine Maskenpflicht einzuführen, wenn es die epidemiologische Situation nötig macht. «Zahlreiche Städte in Europa, zuletzt Brüssel, haben das längst getan.»
Dem stimmt der Tessiner Infektiologe Andreas Cerny zu: «Im öffentlichem Raum, ob drinnen oder draussen, sollte eine Maskenpflicht herrschen, wenn die Abstände nicht eingehalten werden können.» So etwa beim Einkaufen in den Supermärkten oder in den Restaurants, bis man an seinem Platz ist. «Es wäre eine sehr einfache Massnahme, um den Anstieg der neuen Fälle zu reduzieren.» Cerny findet es gefährlich, dass manche Kantone bei den Schulen wieder in den Normalbetrieb zurückkehren. «Wie schnell es gehen kann, hat man auch bei den Beispielen der Jugendlager gesehen.»
Kantone waren gegen Grossveranstaltungen
Der Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), der Basler Regierungsrat Lukas Engelberger, zeigt sich neuen Massnahmen gegenüber offen: «Der GDK-Vorstand hat den Kantonen, die mit anhaltend hohen oder steigenden Fallzahlen beziehungsweise beunruhigenden Entwicklungsprognosen konfrontiert sind, bereits empfohlen, weitergehende Massnahmen wie beispielsweise die Maskenpflicht in Verkaufsgeschäften anzuordnen.» Die möglichen Massnahmen kenne man aus der ersten Welle. «Aber wir haben auch Erfahrungen gesammelt und können die nötigen Massnahmen besser auf die Verhältnisse zuschneiden als in der ersten Welle, beispielsweise in Pflegeheimen, im Bildungswesen, in den Spitälern, in den Verkaufsgeschäften.»
Keine Freude hat Engelberger am Entscheid des Bundesrates: «Wir beobachten die Entwicklung nicht erst seit heute mit Sorge und halten die Lage für sehr labil. Wir hätten uns deshalb ein vorsichtigeres Vorgehen bei der Lockerung der Regelung bei den Grossveranstaltungen gewünscht.»
Rudolf Hauri, Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte, sagt gegenüber 20 Minuten, dass die höheren Fallzahlen für das Contact-Tracing in den Kantonen nun mehr Aufwand bedeuteten. «Die Situation muss man sehr genau beobachten», so Hauri. «Ob ein Tracing-Team nachkommt, hängt weniger von der absoluten Fallzahl ab als vielmehr von der Geschwindigkeit der Virusausbreitung.» Von einem exponentiellen Anstieg sei man derzeit noch weit entfernt. Wenn die Fallzahlen markant steigen würden von Tag zu Tag, muss man laut Hauri wieder über verschärfte Massnahmen diskutieren.
Genf ist der Corona-Hotspot
Im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist der Kanton Genf in der Schweiz am stärksten vom Corona-Ausbruch betroffen. Dort wurden pro 100’000 Einwohner in den letzten sieben Tagen 57 neue Fälle gemeldet. Auf den nächsten Plätzen folgen Schaffhausen (19,5) und Zürich (18,1). Dass der Bundesrat trotz der steigenden Zahlen Grossanlässe wieder zulassen will, sorgt auch für Kritik. So twitterte der Epidemiologe Christian Althaus: «Kann mir jemand erklären, warum wir von März bis Mai acht Wochen im Lockdown waren? Wenn der Bundesrat bei über 200 täglich bestätigten Fällen nichts gegen einen weitere Ausbreitung des Virus unternehmen will, hätten auch vier Wochen gereicht.»