Corona-MassnahmenBund verschläft Booster – droht neuer Shutdown?
In Österreich wird eine Impfpflicht für alle gefordert; Rufe nach einem erneuten Shutdown werden laut. Was passiert in der Schweiz, wenn die Hospitalisationen weiter steigen?
Darum gehts
Die Fallzahlen erreichten in der Schweiz am Mittwoch einen Höhepunkt: Fast 6000 neue Corona-Fälle und gegen 100 hospitalisierte Personen meldete das BAG. Der Sieben-Tage-Schnitt der Hospitalisierungen ist in den letzten 30 Tagen von leicht über 20 auf rund 35 gestiegen. Epidemiologe Marcel Tanner rechnet im «Tages-Anzeiger» damit, dass es Januar wird, bis sich die breite Bevölkerung gegen das Coronavirus boostern lassen kann.
Doch laut Immunologe Daniel Speiser darf die Schweiz mit den Booster-Impfungen jetzt keine Zeit mehr verlieren. «Ansonsten droht, dass die Spitäler triagieren müssen.» Wäre der Booster jetzt für die gesamte Bevölkerung schnell zugänglich, könnte die fünfte Welle gestoppt werden. «Die Schweiz hat die Drittimpfungen aber leider verschlafen.»
Die Gründe dafür sehe er im föderalistisch organisierten System, so Speiser. «Nicht jeder Kanton ist gleich gewillt, die Kapazitäten hochzufahren.» Brauche es neue Massnahmen, die auch Geimpfte träfen, sei dies notwendig und nicht eine Frage der Zumutbarkeit. «Wir müssen alles tun, um die grössten Gefahren zu mildern, zum Beispiel, dass im Spital nicht mehr alle Menschen korrekt behandelt werden können.»
«Bund hat kaum Lehren gezogen»
Scharfe Kritik übt Andreas Faller, Anwalt für Gesundheitsrecht und Ex-Vizedirektor des BAG. «Der Bund hat kaum Lehren aus der Vergangenheit gezogen», sagt er. Schon vor Wochen sei klar gewesen, dass die Booster-Impfung vorangetrieben werden müsse. «Jetzt muss die Schweiz beim Booster sofort Vollgas geben. Es ist inakzeptabel, wenn man dies versäumt und wieder über Shutdown-Geschichten nachdenken muss.»
In Österreich droht bereits ein neuer Shutdown und eine Impfpflicht für alle. Einen erneuten Shutdown sieht Faller als allerletzte Massnahme, sollte die Schweiz die Booster-Impfungen nicht sofort vorantreiben, sollten mildere Massnahmen nicht wirken und sollte die Zahl der Hospitalisationen noch dramatisch steigen. «Ein Shutdown wäre aber für die Geimpften und die Genesenen ein inakzeptabler Zustand.» Vorher müsste eine 2G-Regel diskutiert werden. «Dies aber auch nur, wenn ein entscheidender Nutzen dieser Regel wissenschaftlich und durch Fakten bewiesen wird, was bis heute nicht der Fall ist.»
«Wir sind wegen der Ungeimpften in neuer Welle»
Auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier fordern rasches Handeln. «Wir müssen die Booster-Impfung blitzartig pushen und nicht etwa in Form von weiteren Massnahmen nach komplizierten Lösungen suchen», sagt Mitte-Nationalrat Lorenz Hess. Auch dann sei es vermutlich aber zu spät, um eine Überlastung der Spitäler in den nächsten Wochen abzuwenden. «Primär sind wir wegen der Ungeimpften in einer neuen Welle.»
Brauche es neue Massnahmen, gingen diese den Geimpften, die sich an die Regeln gehalten hätten, verständlicherweise gegen den Strich, so Hess. «Niemand will Massnahmen mittragen wegen Leuten, die sich immer gegen Massnahmen gewehrt haben.» Doch es bleibe nichts anderes übrig. «Wir wollen alle aus dieser Pandemie raus, was ohne Massnahmen unmöglich ist.» Hess vermutet, dass der Bundesrat möglicherweise im Hinblick auf die Abstimmung über das Covid-19-Gesetz aus taktischen Gründen keine weiteren Massnahmen vorschlägt. «Das wäre sogar vertretbar, denn es ist wichtiger, dass das Volk das Gesetz annimmt, damit wir nicht erneut in eine Pandemie laufen.»
Zeitvorgaben an Kantone
FDP-Nationalrat Marcel Dobler fordert, dass vulnerable Personen zeitnah Termine für Drittimpfungen erhalten. «Der Bundesrat steht in der Pflicht, sofort Einfluss auf das Angebot der Impfzentren zu nehmen.» Was es brauche, seien etwa klare Zeitvorgaben, bis wann die vulnerable Bevölkerung geimpft sein müsse. «Die Kantone könnten dann die Öffnungszeiten deutlich ausdehnen und mehr Personal – notfalls vom Zivilschutz oder der Armee – rekrutieren, um die Vorgaben zu erfüllen, so Dobler. Je schneller das breite Angebot für die Impfwilligen bei der Booster-Impfung geschaffen werde, desto schneller werde dies einen Einfluss auf die Infektionszahlen und schweren Verläufe haben.
Dass die Schweiz einen hohen Anteil an Moderna verimpft habe und der Impfstoff gemäss Studien weniger schnell an Wirkung verliere als die Impfung von Biontech/Pfizer, liess die Situation in der Schweiz nicht direkt mit jener in Österreich vergleichen. Trotzdem dränge die Zeit und die heute in Aussicht gestellten Fristen seien «inakzeptabel», sagt Dobler.
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