Bundesasylzentrum: «Er findet mich» – sie sucht Schutz in der Schweiz und ist plötzlich weg

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Bundesasylzentrum«Er findet mich» – sie sucht Schutz in der Schweiz und ist plötzlich weg

Aus Schweizer Asylzentren verschwinden regelmässig minderjährige Flüchtlinge. Ein besonders krasser Fall ereignete sich vor zwei Jahren, wie jetzt bekannt wurde. 

Schätzungen gehen davon aus, dass in Europa weit über 10'000 unbegleitete minderjährige Asylsuchende vermisst werden. Allein in der Schweiz verschwanden im vergangenen Jahr 334 Kinder und Jugendliche aus ihren Asylunterkünften, und bis Ende Juli dieses Jahres gab es bereits 331 «unkontrollierte Abreisen».
Einige von ihnen tauchen später wieder auf, möglicherweise bei Verwandten im Ausland oder im Asylsystem eines anderen europäischen Landes.
Im Fall von Linou hätten die Betreuerinnen im Bundesasylzentrum jedoch schnell gemerkt, dass etwas Besorgniserregendes vorgefallen sein musste.
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Schätzungen gehen davon aus, dass in Europa weit über 10'000 unbegleitete minderjährige Asylsuchende vermisst werden. Allein in der Schweiz verschwanden im vergangenen Jahr 334 Kinder und Jugendliche aus ihren Asylunterkünften, und bis Ende Juli dieses Jahres gab es bereits 331 «unkontrollierte Abreisen».

Tamedia AG

Darum gehts

  • Linou wurde in Afrika sexuell ausgebeutet, ehe ihr über Portugal die Flucht in die Schweiz gelang.

  • «Er wird mich finden», habe sie total verängstigt bei ihrer Ankunft im Frühling 2021 im Bundesasylzentrum gesagt.

  • Seit zwei Jahren wird sie vermisst – sie verliess das Zentrum ohne Gepäck und ohne Begleitperson.

Seit Jahren verschwinden Kinder und Jugendliche, die ohne Begleitung nach Europa geflüchtet sind, regelmässig aus den Einrichtungen, in denen sie Asyl suchen, darunter auch in der Schweiz. Die genauen Gründe für ihr Verschwinden und ihren Verbleib sind weitgehend unbekannt. Viele dieser minderjährigen Asylsuchenden tauchen auf eigene Initiative unter. Durch ihre Entscheidung, unterzutauchen, verlieren sie jedoch den Schutz und laufen Gefahr, von anderen ausgenutzt oder sogar ausgebeutet zu werden.

Ein krasses Beispiel dafür ist eine junge Frau, die die «SonntagsZeitung» Linou* nennt. 2021 sei sie möglicherweise gegen ihren Willen aus dem Bundesasylzentrum Zürich verschwunden. Zu diesem Zeitpunkt habe sie angegeben, 16 Jahre alt zu sein. Das Staatssekretariat für Migration habe ihr Alter kurz vor ihrem Verschwinden auf 21 Jahre eingestuft. Ihre damaligen Betreuerinnen und andere Personen, die in den Fall involviert waren, sagen, dass Linou sehr jung ausgesehen habe. Sie glauben, dass sie nicht einfach abgetaucht ist, sondern höchstwahrscheinlich Opfer von Menschenhändlern wurde, ähnlich wie bereits in ihrem Heimatland in Zentralafrika. 

334 Kinder und Jugendliche verschwinden aus Zentren

In Europa gibt es seit einigen Jahren eine hohe Anzahl von verschwundenen Flüchtlingskindern. Schätzungen gehen davon aus, dass weit über 10'000 unbegleitete minderjährige Asylsuchende vermisst werden. Allein in der Schweiz verschwanden im vergangenen Jahr 334 Kinder und Jugendliche aus ihren Asylunterkünften, und bis Ende Juli dieses Jahres gab es bereits 331 «unkontrollierte Abreisen», wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) es nennt. 

Es ist laut «SonntagsZeitung» wichtig zu betonen, dass der Grossteil der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden aus eigenem Antrieb untertaucht – Menschenhandel stehe nicht im Vordergrund. Einige von ihnen tauchen später wieder auf, möglicherweise bei Verwandten im Ausland oder im Asylsystem eines anderen europäischen Landes. 

Linou verlässt Zentrum ohne Gepäck

Im Fall von Linou hätten die Betreuerinnen im Bundesasylzentrum jedoch schnell gemerkt, dass etwas Besorgniserregendes vorgefallen sein musste. Eine der Betreuerinnen erklärt: «Wir versuchten, Linou auf ihrem Handy zu erreichen, aber es war ausgeschaltet. Ausserdem konnten die anderen Jugendlichen, mit denen sie im Zentrum in Kontakt stand, sie nicht erreichen. Das hat uns nachdenklich gemacht.»

Ein weiterer beunruhigender Umstand war, dass Linou das Zentrum ohne Gepäck und ohne Begleitperson verlassen hatte. Die Betreuerin berichtet: «Linou hatte uns mehrmals ihre Ängste mitgeteilt, dass ihr etwas zustossen könnte, und sie wollte nicht allein nach draussen gehen. Sie schien sehr verängstigt zu sein.» Daher sei in Absprache mit der Zentrumsleitung und dem Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Art Sicherheitsvorkehrung für Linou getroffen worden. Die Verantwortung dafür lag beim SEM, was von drei unabhängigen Personen, die mit Linous Fall vertraut sind, bestätigt worden sei.

«Er wird mich finden»

Linou ist seit ihrem Verschwinden im Sommer 2021 unauffindbar. Diese Betreuerinnen, obwohl sie nicht mehr beim BAZ arbeiten, möchten anonym bleiben. Sie machen die Geschichte des Mädchens publik.

Linous Vater sei schwer erkrankt, ihre Mutter früh verstorben. Sie habe die Schule abgebrochen, um zu arbeiten. Damit habe sie die teuren Medikamente für ihren Vater finanzieren wollen. Ein Mann habe ihr schliesslich angeboten, diese Kosten zu übernehmen. Dafür habe Linou mit ihm in seine Heimat in einem westafrikanischen Land kommen sollen, um dort in seinem Restaurant zu arbeiten. Dort angekommen habe sich ein zweiter Mann vorgestellt – er war ein Freier. Linous Zuhälter habe sie dann via anderer afrikanischen Länder, wo sie weiter sexuell ausgebeutet worden sei, wohl mit einem gefälschten Pass nach Portugal gebracht. Dort sei sie schliesslich von der Polizei gestoppt, verhört und in ein Hotel einquartiert worden. Von dort aus sei ihr die Flucht in die Schweiz gelungen. 

«Er wird mich finden», habe sie total verängstigt bei ihrer Ankunft im Frühling 2021 im Bundesasylzentrum gesagt. Den Betreuern habe sie auch von einem zweiten Mann erzählt. Ihr Zuhälter habe ihr gedroht, dass dieser Mann sie in drei Tagen aus dem Hotel in Portugal abholen werde. Linou bleibt bis heute verschwunden.

*Name geändert

Bist du minderjährig und von sexualisierter Gewalt betroffen? Oder kennst du ein Kind, das sexualisierte Gewalt erlebt?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Kokon, Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene

Castagna, Beratungsstelle bei sexueller Gewalt im Kindes- und Jugendalter

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Bist du selbst pädophil und möchtest nicht straffällig werden? Hilfe erhältst du bei Forio, Beforemore und bei den UPK Basel.

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