Nach hartem Herbst und Winter«Corona könnte in der Schweiz im Frühling vorbei sein»
Experten sind sich einig: Herbst und Winter werden noch einmal schwierig, alles hängt vom Impftempo ab. Dafür stehen die Chancen gut, dass die Pandemie in der Schweiz im Frühling ein Ende hat.
Darum gehts
Derzeit sind rund 60 Prozent der Schweizer Bevölkerung geimpft. Damit es im Gesundheitswesen im Herbst und Winter nicht zum Kollaps kommt, müssen wir in zwei Monaten auf 80 Prozent kommen, sagt ein Experte.
So oder so werden die kommenden Monate noch einmal eine Herausforderung.
Im Frühling könnten sich dann aber die positiven Auswirkungen des hohen Infektionsgeschehens zeigen.
Die Chancen stehen gut, dass durch Infektionen und Impfung bis dann genug Menschen immunisiert sind, um auf Massnahmen grösstenteils zu verzichten.
Urs Karrer ist Chefarzt am Kantonsspital Winterthur und Vizepräsident der Corona-Taskforce des Bundes. Darauf angesprochen, wie sich die epidemiologische Lage in der Schweiz entwickeln könnte, wird er gegenüber 20 Minuten deutlich: «Wir erwarten eine klare Beschleunigung der Epidemie, sobald es kälter wird. Die Delta-Variante ist dermassen ansteckend, dass bis kommenden Frühling alle in der Schweiz lebenden Personen mit dem Virus in Kontakt kommen werden.»
Dass dies früher oder später geschehen wird, darin sind sich Experten einig. Dass aber bereits bis im kommenden Frühling eine komplette Durchseuchung stattfinden könnte, ist eine klare Ansage. Trifft sie ein, bedeutet das, dass sich alle ungeimpften Menschen in der Schweiz – darunter auch die Kinder, die sich noch nicht impfen lassen können – bis im Frühling anstecken werden. Das birgt Gefahren, aber auch Hoffnung.
«Impfquote von 80 bis 90 Prozent muss das Ziel sein»
Die Gefahr: Stecken sich schnell viele Menschen an, droht eine Überlastung der Spitäler. Karrer: «Wir wissen, dass die Saisonalität der Virusübertragungen einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Pandemie in der Schweiz genommen hat.» Wie stark sich dies bei Delta auswirken werde, würden wir in einigen Wochen sehen. «Damit sich diese Beschleunigung vorwiegend ausserhalb der Spitäler abspielt, brauchen wir eine bedeutend höhere Impfquote.» 80 bis 90 Prozent müssten das Ziel sein.
Auch Huldrych Günthard, Infektiologe von der Universität Zürich, sagt: «Es hängt alles vom Impftempo ab. Wenn wir in den nächsten zwei Monaten nicht auf 80 Prozent doppelt Geimpfte kommen, wird die Belastung im Winter für das Gesundheitssystem wahrscheinlich sehr stark sein.» Zurzeit sind rund 60 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft.
«Dieser Winter könnte noch schlimmer werden als der letzte»
Das frühere Taskforce-Mitglied Manfred Kopf befürchtet gar, dass es noch schlimmer werden könnte als letztes Jahr: «In Israel ist die Inzidenz von Hospitalisierungen schon fast so hoch wie an den Spitzen der zweiten und dritten Welle, trotz hoher Impfquote. Alte und vulnerable Menschen erhielten die Impfung dort zwei bis drei Monate eher als in der Schweiz. Man kann also annehmen, dass in zwei bis drei Monaten die Zahl der Impfdurchbrüche auch in der Schweiz stark zunehmen und die Situation sich dadurch verschärfen wird.»
Klar ist also: Herbst und Winter werden noch einmal schwierig, das Gesundheitssystem wird wohl erneut auf eine harte Probe gestellt werden. Viele Infektionen erhöhen auch das Risiko von Long Covid, gerade der mangelnde Schutz der Kinder wird immer wieder thematisiert (siehe unten). Im Frühling könnten sich dann aber die positiven Aspekte dieses rasanten Infektionsgeschehens zeigen. Infektiologe Günthard: «Es kann gut sein, dass bis im Frühling alle Schweizerinnen und Schweizer immunisiert sind. Dann besteht die Chance, dass die Pandemie zu Ende ist – vorausgesetzt, dass keine neuen, besorgniserregenden Variante auftreten.»
«Impfdurchbrüche führen kaum zu schweren Verläufen»
Günthard verweist auf Dänemark, Island und England: «Diese Länder haben die Pandemie ja mehr oder weniger als beendet erklärt und die Vorsichtsmassnahmen innerhalb der Länder mehrheitlich aufgehoben, da 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft sind.» Im Gegensatz zu Manfred Kopf fürchtet Günthard die Impfdurchbrüche weniger: «Auch wenn solche bei genesenen und geimpften Personen jetzt überall beobachtet werden, führen sie kaum mehr zu schweren Verläufen. Wenn dann noch eine dritte Impfung bei älteren Menschen zugelassen wird, sinkt das Risiko für schwere Verläufe noch weiter.»
Auch das Bundesamt für Gesundheit teilt die Meinung, dass wir alle einmal mit dem Virus in Kontakt kommen werden. Auf einen Zeitpunkt will das Amt sich gemäss einem Sprecher aber nicht festlegen. Gar für unmöglich hält der Genfer Epidemiologe Antoine Flahault eine Prognose für den Frühling: «Wir sind heute nicht in der Lage, die Entwicklung der Pandemie länger als ein oder zwei Wochen im Voraus zu bestimmen. Ich bezweifle, dass irgendjemand dies zuverlässig kann.»
Expertin warnt vor Long Covid bei Kindern
Für Kinder unter 12 Jahren ist derzeit in der Schweiz noch kein Impfstoff zugelassen. Verschiedene Studien legen nahe, dass Long Covid, also das Auftreten von Symptomen wie Müdigkeit, Erschöpfung, Kopfschmerzen, der Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns bis hin zu Kurzatmigkeit auch bei Kindern noch Wochen oder Monate nach einer Covid-Erkrankung auftreten könnten. Wie häufig dies der Fall ist, ist noch unklar. Eltern und Lehrer wehren sich schon lange dagegen, dass Kinder einem zu hohen Infektionsrisiko ausgesetzt werden und fordern stärkere Massnahmen insbesondere an den Schulen. Auch die Genfer Virologin Isabella Eckerle sagte kürzlich in einem Interview gegenüber dem «Tagesanzeiger» (Bezahlartikel), dass viele europäische Länder Long Covid bei Kindern ernster nehmen würden als die Schweiz.
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