Corona-Relativierer duelliert sich mit Epidemiologen

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StreitgesprächCorona-Relativierer duelliert sich mit Epidemiologen

Allgemeinmediziner Christian Zürcher sagt, die Schweiz habe in der Corona-Krise den Bezug zur Realität verloren.
Im Streitgespräch traf er auf den Epidemiologieprofessor Marcel Tanner.

Darum gehts

  • Was passiert, wenn ein Epidemiologe und ein Lockdown-Gegner aufeinanderprallen? «20 Minuten»
    hat den Versuch gemacht.

Herr Zürcher, was bringt die Maskenpflicht in Läden?

Zürcher: Masken vermitteln ein gewisses Sicherheitsgefühl. Es gibt aber keine Studie, die belegt, dass Masken umfassend schützen. Wenn jemand stark hustet, hat die Maske eine gewisse Schutzfunktion gegenüber anderen. Die Maske löst als Symbol jedoch existenzielle Angst aus. Dort sehe ich ein grosses Problem. Als Zürich die Maskenpflicht in Läden einführte, war das für mich ein Trauertag.

Tanner: Es gibt inzwischen Studien, die den Nutzen von Masken klar belegen. Die Strategie ist: Wenn man Hygiene- und Distanzmassnahmen nicht einhalten kann, dann soll man Masken tragen, gerade wo man die Kontakte nicht kennt und nicht im Contact-Tracing zurückverfolgen kann. Über die Pflicht entscheiden nun die Kantone in Abhängigkeit der Risikolage, und das ist gut so.

Der Corona-Skeptiker

Christian Zürcher (l.) aus Murten forderte in zwei offenen Briefen ans Parlament ein Ende des Corona-Notrechtes. Für den Schmerzspezialisten und Allgemeinmediziner ist das «Corona-Phänomen 2020» eine Fantasie – sofortige Immunstärkung, viel Schlaf, wenig Stress und Vitamin D3 seien der beste rasch verfügbare Schutz. Er ist der Überzeugung, es gebe eine «natürliche Herdenimmunität» auch gegen Coronaviren. Die Statistik der Corona-Todesfälle findet er unseriös, unter anderem, weil es an Obduktionen fehle. Der Kollateralschaden des Lockdown und weiterer Massnahmen übertreffe alle Befürchtungen.

Der Epidemiologe

Marcel Tanner (r.), Mitglied der Covid-Taskforce des Bundes, zählt zu den renommiertesten Epidemiologen im Land. Der Basler ist Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und stellt sich an Podien
auch der Diskussion mit Gegnern der öffentlichen Corona-Massnahmen. Er sagt: «Ziel muss sein, lokale Ausbrüche früh zu erkennen und gezielt einzudämmen, um erneute flächendeckende Lockdowns
zu verhindern.»

Wie gefährlich ist das Coronavirus?

Zürcher: Coronaviren gehören zu den Erkältungsviren und sind eigentlich nichts Neues. Der Wuhan-Typ,
der anfänglich bei uns präsent war, ist inzwischen kaum mehr da. Abgelöst wird er durch den neuesten Typ
aus Frankreich. Die fröhliche Nachricht: Dieser macht kaum mehr Kranke, ist aber ansteckender.

Tanner: Das Coronavirus aus Wuhan, das vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist, ist doch etwas Neues! Dieser Wuhan-Typ war in der ersten Welle dominant, jetzt ist offenbar eine Veränderung da. Das ist nicht verwunderlich: Ein Virus, das so stark übertragen wird, kann sich verändern. Das Virus aus Wuhan
ist aber nicht verschwunden. Entsprechend sind die Massnahmen abzustimmen.

«Das Virus aus Wuhan ist nicht verschwunden.»

Marcel Tanner

Es gibt junge, gesunde Personen, die erkranken. Und es gibt Patienten, die leiden auch Monate später noch unter den Langzeitfolgen.

Tanner: Ja. Bei Sars-CoV-2 greift in manchen Fällen die Immunantwort nicht. Es gibt zu wenig neutralisierende Antikörper. Die Immunität gegen diese Corona-Typen ist von kurzer Dauer und somit nicht so gut wie erhofft. In Afrika, wo die Bevölkerung jünger ist und wo es eine hohe Frequenz anderer Coronavirus-Typen gibt, sehen wir weniger schwere Verläufe.

Zürcher: Ich möchte an die Verhältnismässigkeit appellieren. Die Leute mit schweren Verläufen und Langzeitfolgen sind nicht typisch. Man muss erstens die Gefährdeten schützen und zweitens das Immunsystem stärken (Schlaf, Stressreduktion, Vitamin D3). Drittens sollte heute endlich von den heutigen effizienten Therapieoptionen gesprochen werden. Dazu gehören unter anderem Kortison oder der Blutverdünner Heparin. Die Corona-Statistik ist zu hinterfragen: Wir zählen 1700 Corona-Tote, es gibt aber keine Obduktionen. Die Tests wurden nie validiert, von Swissmedic nicht geprüft. Vielleicht sind es auch deshalb viel weniger. 2015 zählte die Schweiz 2500 Grippetote – dort sprach aber niemand davon. Unsere Wirtschaft ist eingebrochen wie nie zuvor. Wir haben die Verhältnismässigkeit komplett verloren, machen uns kaputt. Gemäss führenden Ökonomen benötigen wir zwei bis zehn Jahre, um die drei Monate Lockdown auszugleichen.

Vergangenes Wochenende gingen Gegner der Corona-Massnahmen in Zürich auf die Strasse. Es gibt Leute, die in der Pandemie eine Verschwörung von Bill Gates und WHO wittern. Oder Leute, welche die Pandemie auf den neuen Mobilfunkstandard 5G zurückführen.

Zürcher: Das ist ein Spiegel eines Teils der Bevölkerung, der anders zu denken beginnt, der nicht einverstanden ist mit einer Meinung, welche die Regierungsvertreter und die Presse vertreten haben, die lange nur mit einer Stimme sprachen.

Tanner: Es stimmt, wir müssen die Stimmung in der Bevölkerung und das vorhandene Gedankengut ernst nehmen. Und dann müssen wir, das ist auch Aufgabe der Taskforce, auf wissenschaftlicher Basis Ausblick schaffen. Die Botschaft: Keine Angst und Verhältnismässigkeit. Etwa, indem wir mit allen Beteiligten Schutzkonzepte entwickeln. Nur so kommen wir als Gesellschaft weiter.

Das BAG riet erst von Masken ab, es gab kommunikative Pannen. Welches Zeugnis stellen Sie dem Bund aus?

Tanner: In jeder Krisensituation können Pannen passieren. Die Pandemieplanung wurde wie eine heisse Kartoffel vom einen zum anderen Ort geschoben. Wir waren überrumpelt. Die Geschehnisse müssen wir aufarbeiten. Als sich die Situation in Italien zuspitzte, musste etwas passieren. Das hat vor allem auch die Bevölkerung im Tessin erwartet. Die Strategie der Taskforce war immer, dass wir wissen müssen, wo Übertragungen stattfinden, damit man gezielt eingreifen kann. Wenn das Contact-Tracing funktioniert, können wir die Situation kontrollieren.

Zürcher: Der Bundesrat hatte mit den Schreckensbildern von Wuhan eine schwierige Situation angetroffen und wollte sich mit dem Notstand alle Optionen offenhalten. Das ist wohl mit guter Absicht passiert.
Im April haben wir gesehen, dass die Erkrankungszahlen schnell abnahmen. Es geht darum, jetzt das Richtige
zu tun, damit wir uns in Zukunft nicht noch unglücklicher machen.

«Wir haben die Verhältnismässigkeit komplett verloren.»

Christian Zürcher

Hoffnung besteht auf einen baldigen Impfstoff. Wie stehen Sie zur Impfpflicht?

Tanner: Man muss Respekt haben vor Leuten, die eine Impfung nicht annehmen. Pflicht gibt kein Vertrauen
in den Staat. Geimpft werden sollten vor allem Risikopersonen, weil man gezielt dort impfen sollte, wo es
am meisten nützt.

Zürcher: In meinem Praxisbetrieb war ich für bestimmte andere Erreger bisher auch fürs Impfen. Der Corona-Impfstoff ist aber noch lange nicht spruchreif. Eine Pflicht lehne ich ab – da sind wir uns einig.

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