Umstrittene Theorie widerlegtCovid-19-Impfungen führen nicht zu gefährlicheren Mutanten – im Gegenteil
In Coronaskeptiker und Impfgegner-Kreisen hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Impfungen zur Ausbildung neuer, noch gefährlicheren Varianten führen. Daran ist jedoch nichts.
Darum gehts
Eine neue Studie nimmt Anhängern von Geert Vanden Bossches Wind aus den Segeln.
Der Belgier behauptet, dass die Covid-19-Impfstoffe das Virus dazu bringen, gefährlich zu mutieren.
Laut der Studie ist aber genau das Gegenteil der Fall: Die Gefahr, dass sich gefährliche Varianten entwickeln, ist viel höher, wenn sich das Virus unter Ungeimpften ausbreitet.
Im März 2021 sorgten ein Youtube-Video und ein offener Brief an die Weltgesundheitsorganisation WHO für Aufsehen. In beiden warnt der Belgier Geert Vanden Bossche vor den angeblichen Gefahren der aktuellen Corona-Impfstoffe und ruft dazu auf, die Covid-Impfungen zu stoppen, ansonsten drohe «eine globale Katastrophe ohnegleichen», denn die Impfstoffe würden ein «unkontrollierbares Monster» erschaffen. Vanden Bossche behauptet, die Covid-Impfstoffe schaden der Menschheit, da sie dem Virus erlauben, gefährlich zu mutieren, so, dass unser Immunsystem sie mit Antikörpern nicht mehr bekämpfen könne.
Die Argumentation des Belgiers, der laut eigenen Angaben Veterinärmediziner mit einem Abschluss in Virologie ist und der seit 1995 keine wissenschaftliche Forschungsarbeit mehr veröffentlicht hat, wurde seither fleissig geteilt – auf einschlägigen Websites und von ebensolchen Gruppen. Nur aus der Wissenschaft erhielt er keine Unterstützung, dafür aber Gegenwind, wie unter anderem das Wissenschaftsmagazin Higgs.ch oder das Recherchezentrum Correctiv.org berichten. Auch die Impfkampagnen laufen weiter, mittlerweile wurden weltweit mehr als 3,29 Milliarden Dosen verabreicht.
Eine neue Studie, die noch nicht final begutachtet wurde, stärkt den Kritikern von Vanden Bossches Behauptung den Rücken. Sie ist auf dem Preprint-Server Medrxiv.org abrufbar und zeigt, dass die Behauptung des Belgiers falsch sind und, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Die Covid-19-Impfungen bremsen sogar die Entstehung neuer Varianten.
Mehr Impfungen, weniger Varianten
Das indisch-amerikanische Forschendenteam belegt in mehreren Punkten, wie es zu dieser Schlussfolgerung gekommen ist. So zeigt es am Beispiel von Grossbritannien, Indien, Frankreich, Israel und den USA, dass die genetische Vielfalt von Sars-CoV-2 nach dem Start der Impfkampagnen – konkret: mit den ersten verabreichten Dosen – beginnt, deutlich abzunehmen (siehe Bildstrecke). Auch der Blick auf die globale Situation zeigt: Je mehr Menschen geimpft sind, desto weniger Virusvielfalt ist zu finden.
Die Autorinnen und Autoren schreiben aber auch, dass die Abnahme der genetischen Virusdiversität mit einem verstärkten Auftreten der sogenannten «variants of concern» – den von der WHO als besorgniserregend eingestuften Varianten – einhergeht. Dies aber nicht etwa, weil die Impfungen diese hervorrufen würde, sondern weil die fitteren Varianten den Impfschutz leichter durchbrechen können.
Darum erkranken Geimpfte meist mild
Weiter zeigt die Studie, warum der durch die Impfung provozierte Impfschutz bei einigen Virusvarianten schlechter ausfällt. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die sogenannten Gedächtniszellen (siehe Box), so die Forschenden. Die Analyse von rund 1,8 Millionen viralen Genomen aus 183 Ländern habe gezeigt, dass die B-Zell-Epitope viel häufiger mutieren als T-Zell-Epitope. Bei Epitopen handelt es sich um jene Teile des Sars-CoV-2-Spikeproteins, die von den Immunzellen erkannt werden.
Bausteine des Immunsystems
Das menschliche Immunsystem kann auf zwei Arten auf Erreger reagieren: mit Antikörpern und sogenannten Gedächtniszellen.
Bei Antikörpern handelt es sich um Proteine (Eiweisse) aus der Klasse der Globuline, die in Wirbeltieren von den Plasmazellen als Reaktion auf bestimmte Stoffe (Antigene) gebildet werden.
Gedächtniszellen sind spezialisierte Lymphozyten, die nach einem Kontakt mit einem Antigen über lange Zeit (Monate bis Jahre) ruhen können. Sie werden nur reaktiviert, wenn sie wieder auf die entsprechenden Antigene treffen. Hierbei unterscheidet man zwischen T-Zellen, die andere infizierte Zellen abtöten, und B-Zellen, die je nach Bedarf mehr neutralisierende Antikörper bilden. Beide stellen das sogenannte immunologische Gedächtnis dar.
Für den Immunschutz bedeutet das: Er funktioniert immer noch, aber nicht mehr so gut. «Die T-Zellen erkennen fast das gesamte Spikeprotein, während B-Zellen nur noch einen Teil davon als Vorlage für neutralisierende Antikörper verwenden können», erklärt die österreichische Forscherin und Wissenschaftskommunikatorin, die sich auf Instagram molecular.sylvia nennt. Die Antikörper griffen «nicht mehr perfekt», «aber die T-Zellen erkennen das Virus weiterhin.» Das sei der Grund, warum Infektionen bei Geimpften meistens mild seien.
Gesellschaftlicher Nutzen der Impfungen grösser als gedacht
Die Forschenden konnten weiter zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob das Virus in einem geimpften oder einem ungeimpften Menschen mutiert: Demnach fanden sie bei Personen, die sich trotz der Impfung infizierten, 38 Mutationen im Spikeprotein von Sars-CoV-2. Bei Ungeimpften waren es derer 68. Das bedeutet laut den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, dass die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus mutiert, bei Ungeimpften viel höher ist als bei Geimpften. Auch punkto der Wahrscheinlichkeit, einen schweren Verlauf zu haben, schneiden Ungeimpfte schlechter ab – und das deutlich. So fanden die Fachleute bei 25 ungeimpften Patientinnen und Patienten, deren Proben sie in der Studie untersuchten im Schnitt 39,9 Einträge für klinische Komplikationen. Bei 22 geimpften Personen waren es dagegen nur durchschnittlich fünf. Dabei spielte es keine Rolle, wie viele Mutationen das Virus aufwies.
Laut den Autorinnen und Autoren liefert die Studie den ersten Nachweis, dass die Impfstoffe Sars-CoV-2 grundlegend einschränken: «Der gesellschaftliche Nutzen einer Massenimpfung könnte folglich weit über die weithin berichtete Minderung des Infektionsrisikos und die Verbesserung der Übertragung in der Gemeinschaft hinausgehen.»
«Eine der abscheulichsten Veröffentlichungen»
Geert Vanden Bossche, dessen Behauptungen von der Studie widerlegt werden, hält von alledem nicht viel. Seiner Meinung nach ist dies «eine der abscheulichsten Veröffentlichungen», die er je gelesen habe. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeit der Begutachtung durch unbeteiligte Experten standhält.» Weiter unterstellt er den Autorinnen und Autoren, eine Mission zu haben: Eine, «die alles andere als von der Wissenschaft inspiriert ist», so der Belgier. Es handele sich um eine wirklich beispiellose Verletzung und Falschdarstellung der Wissenschaft. Er begründet seine Anschuldigungen damit, dass einige der Autorinnen und Autoren bei der Pharma-Firma Nference arbeiten. Den Namen des Unternehmens, verpackt in einer E-Mail-Adresse, schreibt er dabei falsch. «Das erklärt vielleicht, warum pedantische Botschaften vermittelt werden, die leider durch keinerlei Daten in dieser Arbeit gestützt werden.
Ganz anders sieht das offenbar die Wissenschafts-Instagrammerin aus Österreich: «Das ist eines der besten Papers, die mir bisher untergekommen sind.»
Wer im Glashaus sitzt …
Geert Vanden Bossche wirft den Autorinnen und Autoren vor, interessengebunden zu argumentieren. Dies allein aufgrund des Arbeitgebers einiger. Weitere Belege für die Unterstellung liefert er nicht. Dabei könnte man dem Belgier das gleiche unterstellen. Denn der schlug in seinem offenen Brief vor, statt der seiner Meinung nach ungeeigneten Impfstoffen besser sogenannte Natürliche Killerzellen einzusetzen, kurz NK-Zellen. Das sind Zellen, die von Krankheitserregern befallene Zellen oder Krebszellen abtöten. Was Vanden Bossche in dem Schreiben nicht erwähnt: Er forscht selbst zu NK-Zell-basierten Impfstoffen. Ob eine solche Killerzellen-Impfung funktioniert, belegt der Belgier nicht.
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