Angriffiger Umgangston - Darum sind Wut, Hass und Drohungen aktuell so verbreitet

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Angriffiger UmgangstonDarum sind Wut, Hass und Drohungen aktuell so verbreitet

Zerstörte Plakate, Attacken auf Politiker und Medienschaffende: Durch die Pandemie sei die öffentliche Debatte aufgeheizter geworden, sagt ein Forscher. Eine Rolle spielen dabei Existenzängste.

Linards Udris vom Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, stellt eine aufgeheiztere öffentliche Debatte fest.
Ihre aufgestellten Plakate würden systematisch zerstört, twittert etwa die AL Schaffhausen.
«Leute, mal ehrlich: Ist das unsere Diskussionskultur geworden?», twitterte der Kampagnenleiter der GLP Kanton Zürich.
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Linards Udris vom Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, stellt eine aufgeheiztere öffentliche Debatte fest.

20min/Marco Zangger

Darum gehts

  • «Weil eine Krise generell zu Unsicherheit und Existenzängsten führt, suchen Menschen zunehmend einen Schuldigen», sagt ein Öffentlichkeitssoziologe.

  • Besonders in den sozialen Medien hat die Debattenkultur an Niveau verloren.

  • Irgendwann betrachten User, die eine bestimmte Haltung hätten, solche mit anderen Meinungen nicht mehr als legitim und verfolgen das Ziel, diese mundtot zu machen, sagt eine Soziologin.

Ein Grünen-Nationalrat wird zum Suizid aufgefordert. Bio-Bauern trauen sich aus Angst um ihre Familien nicht mehr, sich für die Agrar-Initiativen auszusprechen. Eine Politikerin steht wegen Morddrohungen unter Polizeischutz.

Dazu kommen Angriffe auf Medienschaffende, zerstörte Wahlplakate, Holocaust-Vergleiche in der Corona-Debatte, Hassmails – und das alles innerhalb weniger Monate: Der Umgangston im politischen und gesellschaftlichen Diskurs scheint derzeit aussergewöhnlich angriffig, rau und nicht selten unter der Gürtellinie zu sein.

Betroffen sind häufig auch spezifische Gruppen. 45 Prozent der antisemitischen Vorfälle 2020 wurden laut dem neusten Antisemitismus-Bericht durch die Pandemie getriggert. Zudem bilanziert der aktuelle Hate Crime-Bericht von Pink Cross trotz Lockdown und Social Distancing keinen Rückgang von Anfeindungen und Hassverbrechen gegen Lesbische, Schwule und Bisexuelle.

«Menschen suchen zunehmend Schuldigen»

«Die öffentliche Debatte ist aufgeheizter geworden», sagt Linards Udris, stellvertretender Forschungsleiter des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich. Die Corona-Krise habe zu einer Verschärfung des gesellschaftlichen und politischen Diskurses beigetragen.

«Weil eine Krise generell zu Unsicherheit und Existenzängsten führt, suchen Menschen zunehmend einen Schuldigen», so der Öffentlichkeitssoziologe. Demnach hätten zum Beispiel Drohungen gegen Politiker zugenommen. «Da bei den Agrar-Initiativen für Bauern ohnehin schon viel auf dem Spiel steht, überrascht es nicht, dass dies einige zu unangemessenen Aktionen verleitet.»

Polarisierte Gruppen

Besonders äussert sich die niveaulose Debattenkultur laut Udris in den sozialen Medien. Die verschiedenen Bubbles tauschten sich zwar aus. «Doch je mehr sie sich austauschen, desto mehr beginnen sie sich zu beschimpfen und so verhärten sich die Fronten.»

Gerade bei politisch aufgeladenen Themen entwickelten sich dadurch polarisiertere Gruppen, so Udris. «Argumente zählen nicht mehr. Es geht dann nur noch darum, zu welcher Community man gehört – zum Beispiel entweder auf die linke oder auf die rechte Seite.» Gewachsen seien beide Pole während Corona aber nur teilweise. «Die Corona-Krise und emotionale Abstimmungskämpfe verstärken zwar verschiedene Formen der Polarisierung. Aber insgesamt gilt: Laute Gruppen erhalten viel Aufmerksamkeit, sind aber immer noch klar in der Minderheit.»

Debatte gewinne nach Krise an Niveau

Attacken gerade auf Journalisten häufen sich laut Udris, weil die Corona-Krise ein verstärktes Informationsbedürfnis hervorgerufen hat und die Gesellschaft deutlich merkt, wie wichtig die Medien sind. «In der Folge gibt es eine laute Minderheit, die eine Wut auf Medienschaffende entwickelt, da sie der Meinung ist, diese berichteten falsch und verzerrt.»

Udris rechnet damit, dass die Debattenkultur wieder an Niveau gewinnt, sobald die Krise ausgestanden ist. «Wir müssen aber lösen, wie wir mit den sozialen Medien umgehen.» Bereits vor der Pandemie sei Social Media oft für Hetze und Anfeindungen missbraucht worden.

«Verfolgen Ziel, mundtot zu machen»

Auch Lea Stahel, Soziologin an der Universität Zürich, stellt eine Verarmung der Gesprächskultur im Internet fest. «Das Internet führt dazu, dass sich mehr Leute am öffentlichen Diskurs beteiligen können und damit auch solche, die von den höflichen Normen abweichen.» Einige User grenzten sich zum Beispiel aufgrund einer bestimmten Haltung zu den Corona-Massnahmen oder den Agrar-Initiativen in Gruppen von anderen ab. «Irgendwann betrachten sie User mit anderen Meinungen nicht mehr als legitim und verfolgen das Ziel, diese mundtot zu machen.»

Als gefährdet betrachtet Stahel die Schweizer Gesprächskultur jedoch nicht. «Wir legen immer grösseren Wert auf nicht diskriminierende Sprache und darauf, dass Minderheiten am öffentlichen Diskurs teilnehmen.» Auch wenn im Moment sehr viel kritisiert, gedroht und gehasst werde, sei gesamtgesellschaftlich eine längerfristige Verbesserung der Gesprächskultur wahrscheinlich.

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