Ungleiche Behandlung? – Das denken Kriegsflüchtlinge aus Syrien über die Ukraine-Solidarität

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2015 geflüchtet«Bitte vergesst nicht, dass weltweit Menschen auf der Flucht sind»

Die Solidarität mit der Ukraine ist riesig. Das freut einen Syrien-Flüchtling und eine junge Frau, die aus Afghanistan vertrieben wurde. Dass sie und ihre Landsleute ganz andere Erfahrungen gemacht haben, schmerze aber.

Farhad Haji ist 2015 aus Syrien geflüchtet. 
2017 gründete er die Beratungsstelle Integrationsbrücke Bern. 
Er hat schon Hunderte Syrerinnen und Syrer beraten, die in die Schweiz geflohen sind. 
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Farhad Haji ist 2015 aus Syrien geflüchtet. 

Integrationsbrücke Bern

Darum gehts

80 Millionen Franken hat allein die Glückskette in der Schweiz für vertriebene Ukrainerinnen und Ukrainer gesammelt. Innert weniger Tage haben 45’000 Menschen angeboten, Geflüchtete aufzunehmen. Alle Ukrainer, die vor dem Krieg fliehen mussten, erhalten ausserdem den erstmals aktivierten Schutzstatus S: Sie müssen kein ordentliches Asylverfahren durchlaufen und dürfen frei reisen und arbeiten. Dazu gibt es Gratis-GA der SBB.

«Ich weiss, was es heisst, eines Tages im Krieg aufzuwachen und plötzlich auf der Flucht zu sein. Und ich weiss auch, wie schön es ist, wenn man von fremden Menschen in einem anderen Land Hilfe und Solidarität erleben darf», sagt Farhad Haji. Der Syrer kam 2015 in die Schweiz. Nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs war er einer der Ersten, die angeboten haben, Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen.

«Ich habe das Gefühl, dass alle anderen vergessen gehen»

Doch die riesige Solidaritätswelle ruft in Haji nicht nur positive Gefühle hervor. Einerseits, weil viele seiner Landsleute ganz andere Erfahrungen gemacht haben: «Geflüchtete aus Syrien fühlten sich hier nie willkommen. Wer nur einen F-Ausweis, also eine vorläufige Aufnahme, erhielt, durfte lange nicht reisen oder arbeiten, viele mussten jahrelang in Asylzentren bleiben und hatten kaum Chancen auf Integration.»

Haji kennt Hunderte solcher Fälle. 2017 gründete er die Beratungsstelle «Integrationsbrücke Bern». Er wolle eine starke Stimme sein für Menschen, die im Alltag und in der Politik sonst oft überhört würden. Doch gerade das gelingt in diesen Tagen nicht. «Ich habe das Gefühl, dass die Menschen vor lauter Solidarität mit der Ukraine alle anderen, die sich auf der Flucht befinden, vergessen. Das tut weh», sagt Haji.

350’000 tote Zivilisten in Syrien

Dass die Solidarität mit anderen Menschen wegen des Ukraine-Kriegs zurückgeht, spürt Haji ganz direkt: «Mehrere Menschen haben mich in den letzten Tagen angerufen und gesagt, sie könnten leider nicht mehr für die Integrationsbrücke spenden, weil sie für die Ukraine spenden. Das finde ich schon fragwürdig.» Bei Sachspenden sei es ähnlich: «Annahmestellen für die Ukraine werden mit Kleidern überhäuft. Als wir am Sonntag eine Sammelaktion für Geflüchtete von anderen Ländern machten, liess sich stundenlang niemand blicken», sagt Haji.

Auch die Opferzahlen würden das kaum rechtfertigen: «In Syrien wurden Millionen Menschen vertrieben und laut der UN über 350’000 Zivilisten getötet. Noch einmal: Die Hilfe für die Ukraine ist extrem schön. Aber bitte vergesst nicht, dass es vielen Menschen auf der ganzen Welt genauso schlecht geht.»

«Mein Antrag wurde ohne Begründung abgelehnt»

Auch die 27-jährige F.S.* aus Afghanistan kennt das Gefühl, in der Schweiz nicht willkommen zu sein. Sie kam 2015 mit weiteren Flüchtenden aus Afghanistan in die Schweiz. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. «Obwohl Frauen in Afghanistan kaum Rechte haben, Vertreibungen an der Tagesordnung sind, ich bedroht wurde, weil ich als Lehrerin arbeitete und eine lange, harte Flucht hinter mir hatte, lehnte man mich in der Schweiz ohne Begründung ab. Ich fand das unfair und frustrierend», sagt S.

Erst, als sie rechtlich gegen den Entscheid vorging, erhielt sie den Status F. Vier Jahre lang lebte sie in einem Asylzentrum. «Auch da gab es viele Probleme, etwa mit anderen Asylsuchenden, aber auch mit der Betreuung. Das Schlimmste war, dass wir kaum Möglichkeiten hatten, uns wirklich zu integrieren. Wir hatten das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein.» Seit drei Jahren macht S. jetzt eine Ausbildung in der Migros.

S. würde sich wünschen, dass alle Vertriebenen gleich behandelt werden. Auch sie findet es sehr schön, dass Schweizerinnen und Schweizer jetzt alles tun, um die Geflüchteten aus der Ukraine willkommen zu heissen. Sie würde sich aber wünschen, dass das immer so ist: «Wir sind alles Menschen, unabhängig von der Religion, der Hautfarbe oder dem Heimatland. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass man Menschen, die aus einem Land vor dem Krieg flüchten, so anders behandelt, als Menschen, die aus einem anderen Land vom Krieg flüchten.»

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