«Das Herz fühlt es, doch die Hände sind nicht da»

Aktualisiert

Bauer ohne Arme«Das Herz fühlt es, doch die Hände sind nicht da»

Bauern sei Handarbeit, sagt Wisi Zgraggen (39). Er selbst hat aber keine Hände und meistert den Job trotzdem. Zudem ist er Vater, Ehemann und glücklich.

von
T. Bircher

Wisi Zgraggen (39) erzählt, wie er bei einem Arbeitsunfall beide Arme verlor. (Video: Tanja Bircher)

Er rennt den Hang hinauf, springt über die Löcher im Gras. Völlig unbeirrt vom unebenen Terrain ist er im Nu auf dem Aussichtspunkt, der den Blick auf den ganzen Hof und die dicht bewaldeten Berge freigibt. Währenddessen kraxelt die Reporterin mit Kamera an der Schulter und Stativ unter dem Arm hinterher. Immer wieder muss sie sich mit der Hand abstützen, damit sie nicht ausrutscht. Geduldig wartet er und lächelt, während sie versucht, das Stativ aufzustellen. Es steht schräg und oben klemmt ein Stück. Das Handy lässt sich weder einspannen noch richtig positionieren.

«Warte», sagt er und beginnt mit dem Haken an seinem rechten Arm am Stativ zu hantieren. Sofort hat er das eingeklemmte Element herausgelöst, umgedreht und wieder angebracht. «Siehst du, jetzt kannst du es nach oben klappen», sagt er, während er mit dem linken Fuss den Verschluss unten an einem Stelzen des Stativs löst, den Stelzen etwas einfährt und den Verschluss wieder zuklappt. «Und jetzt steht das Ding auch gerade.» Die Reporterin kann mit dem Video loslegen.

«Ich liebe die Freiheit, nicht zu wissen, was morgen ist. Ich habe keine Angst. Die Zukunft bringt Gutes.»

Alois Zgraggen, genannt Wisi, ist knapp 40 Jahre alt und hat keine Arme. Bei einem Arbeitsunfall ist er vor 14 Jahren in die Heuballenpresse geraten, die ihm den linken Arm komplett ab der Schulter gerissen hat, vom rechten ist ein kleiner Stumpf geblieben, an dem er eine Prothese mit Haken anbringen kann. Ein Buch, das heute Dienstag erscheint, erzählt seine Geschichte.

Jetzt sitzt Wisi an einem Tisch, aus einem Röhrli trinkt er Wasser gemischt mit Apfelsaft. Seine Augen sind tiefblau, sein Blick ist durchdringend, als könnte er jemandem direkt in die Seele blicken. Er trägt ein hellrotes Shirt. «Im Sommer ist es mir aber oft zu heiss – jetzt zum Beispiel hat es da sicher einen halben Dezi Schweiss drin», sagt Wisi und deutet auf seine Achsel oberhalb der Prothese. Tatsächlich ist das Shirt dort dunkelrot.

«Wie es mir heute geht? Sieht man das nicht? Ich kann nicht klagen. Ich stehe mitten im Leben, ich habe eine Familie, ich habe eine Aufgabe, ich bin integriert. Ich gehöre dazu.»

Wisi ist Bauer. Er betreibt einen Hof in Erstfeld UR mit Dexter-Kühen. Doch seine Leidenschaft ist Gras: Etwas scheinbar Wertloses in etwas Überlebenswichtiges umzuwandeln. Futter für die Kühe bedeutet auf lange Frist Futter für die Menschen. «Gras mähen ist das Schönste, was es gibt», sagt Wisi. Das ist der Ertrag, das Lob, das ein Bauer sonst von niemandem erhält. «Und es ist der Geruch.»

Doch die Arme fehlen überall. «Bauern ist Handarbeit», er lacht über sein Wortspiel. «Am meisten vermisse ich sie aber, um meine Gefühle auszudrücken.» Davon sei vor allem seine Partnerschaft betroffen. «Angelika», sagt Wisi und kurz verlieren seine Augen den Fokus, er blickt scheinbar aus dem Fenster. Richtig weh tue es erst, wenn man ein anderes Paar sehe, das Händchen haltend oder Arm in Arm spaziere. «Das hat man selbst immer gemacht und dann einfach nicht mehr, weil es nicht geht. Aber das Herz fühlt es trotzdem, nur von den Händen kommt kein Signal mehr, sie sind nicht da.» Für einen Mann möge das kitschig klingen, das sei ihm egal.

«Ich erwachte oft schweissgebadet. Ich träumte von mir mit den Armen und realisierte am Morgen, dass sie weg sind. Heute nicht mehr. Das Hirn vergisst. Die Seele nicht.»

Wisi hat vier Kinder: Thomas, Reto, Ivan und Leonie. Sie kennen ihn nur ohne Arme. Angelika war mit dem zweiten Kind schwanger, als er auf dem Feld verunfallte. Thomas, der Älteste, war damals 15 Monate alt. «Für sie bin ich ein Däddi wie jeder andere auch. Nicht die Hände machen dich zum Vater, sondern das, was du lebst, das, was du für deine Kinder fühlst.»

Er hat seine Maschinen auf dem Hof umbauen lassen, damit er sie mit den Füssen steuern kann. Die Milchwirtschaft hat er aufgegeben. Diesen Entscheid traf sein Vater Alois kurz nach dem Unfall. Als Wisi noch am Boden kauerte – ein Arm in der Heuballenpresse, der andere an wenigen Fäden an seinem Ellbogen – wusste er selbst: «Wir müssen umsatteln von Milch- auf Fleischwirtschaft.» Zuerst aber telefonierte er mit Angelika.

«Sie hat mich von Anfang an fasziniert. Ich war richtig verliebt. Sie sagt, was sie denkt, und das ist auch richtig so. Sie soll ihr Leben führen, nicht das einer anderen Person.»

Wisi und Angelika heirateten am 30. September 2000. Ihre Ehe hätte sich anders entwickelt, wäre der Unfall nicht passiert. «Ich glaube, wir hätten uns auseinandergelebt. Ich hätte das Mass nicht gehabt.» Vor dem Unfall arbeitete Wisi bis zu 16 Stunden am Tag, er ass im Stehen und sah sein Baby kaum. Jedes Jahr von Mai bis November begegnete er seiner Frau meist erst nachts, wenn er sich völlig erschöpft neben sie ins Bett fallen liess. «Das ist traurig, ich schäme mich dafür. Das darf nicht sein.»

Heute kann Wisi aufgrund seiner Behinderung nicht mehr so viel arbeiten, doch vor allem will er es nicht. «Ich lasse es nicht noch einmal so weit kommen.»

«Gott prüft und zuletzt richtet er. Er richtet dich nicht an deinen guten Taten, sondern an deinen schlechten. Ich habe auch schon Schlechtes getan in meinem Leben. Leider.»

Wütend auf die Maschine, die ihm seine Arme abgerissen hat, sei er nie gewesen. «Es war mein Fehler, ich hätte sie abschalten sollen. Dass ich das nicht getan habe, das musste ich mir verzeihen.» Etwa zwei Jahre habe das gedauert. Es sei viel einfacher, jemand anderem zu vergeben als sich selbst. Als Wisi sechs Wochen nach seinem Unfall zum Psychiater ging, sagte ihm der, er könne ihm nicht helfen, ihm gehe es gut. «Ich hatte im Spital einen Monat lang jeden Tag Besuch, jeder wollte wissen, was passiert war. Ich erzählte den Unfallhergang Tausende Mal, so habe ich es verarbeitet.»

Jahre danach fand er zusammen mit seinem Vater heraus, was an der Maschine damals kaputt war. Ein Wackelkontakt, 2.50 Franken hätte die Reparatur gekostet. Auch dass er an diesem Morgen überhaupt aufgestanden war, bereut Wisi nicht. «Es war ein wunderschöner Tag. Ich liebte das Heuballenpressen.» Heute bedient er dieselbe Maschine wieder. Das erste Mal sei ihm etwas mulmig zumute gewesen. Das sei aber vorbei.

Bauern seien Konkurrenten. Lange habe er jedoch Mitleid in den Augen seiner Kollegen gesehen. Heute werde er wieder als Mitbewerber wahrgenommen, man beneide ihn hie und da sogar etwas, und das sei ein gutes Zeichen.

«Ich trage die Verantwortung auf dem Hof, ich habe zwar keine Arme mehr, aber immer noch einen Kopf. Schiesslich kann ich ihn nicht mehr kratzen, dann brauche ich ihn jetzt halt zum Denken.»

Wisi sagt, er sei glücklich. Man glaubt es ihm.

«Was soll ich dir runtertragen?», fragt er die Reporterin und lacht laut. «Tragen, verstehst du? Ohne Hände. Ha!» Dann krallt er sich mit dem Haken das Stativ und rennt den Hang hinunter.

Bauernleben

Das Buch «Bauernleben. Die unglaubliche Geschichte des Wisi Zgraggen» von Barbara Lukesch erscheint am 20. September im Wörterseh-Verlag und ist im Handel für 39.90 Franken erhältlich.

Mehr über Wisi Zgraggen und seinen Bauernhof erfährt man auf Dexterzucht.ch.

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