«Der Anschlag kommt auch für Moskau ungelegen»

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Vergifteter Oppositioneller Russland«Der Anschlag kommt auch für Moskau ungelegen»

Wer steckt hinter dem Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker Alexei Nawalny und was war das Motiv? Es gibt im Westen verschiedene Theorien. «Der Anschlag kommt auch für Moskau ungelegen», meint Osteuropa-Experte Jeronim Perovic.

Darum gehts

  • Kreml-Kritik Alexei Nawalnys Zustand ist weiterhin ernst.
  • Er wurde offenbar mit einem chemischen Kampfstoff der «Nowitschok»-Gruppe vergiftet.
  • Es gibt mehrere Theorien über Motiv und Auftraggeber.
  • Osteuropa-Experte Jeronim Perovic schätzt ein, welche plausibel sind.

Der Gesundheitszustand des russischen Kreml-Kritikers Alexei Nawalny ist nach Angaben der Berliner Charité weiterhin ernst. Zwar gingen die Symptome der nachgewiesenen Vergiftung zurück, Nawalny liege aber nach wie vor auf der Intensivstation und werde maschinell beatmet.

Am 19. August waren Nawalny und zwei Mitarbeiter in Tomsk aufgetreten. Die Anreise in die westsibirische Stadt sei geheim gewesen, schreibt «Der Spiegel» in seiner Titelgeschichte. Vor zwei Dutzend Oppositionellen sprach der Kreml-Kritiker über die bevorstehenden Regionalwahlen im September und darüber, wie man der Kremlpartei Einiges Russland mit der Strategie des «schlauen Wählens», dem systematischen Umlenken von Proteststimmen, schaden könne.

Merkel griff persönlich ein

Vor der Rückreise nach Moskau am 20. August trank Russlands bekanntester Oppositionelle im Wartesaal des Flughafens Tee für 100 Rubel und bestieg dann die Maschine. Bald nach dem Start brach er zusammen. Der Flieger kehrte nach Tomsk zurück, Notlandung. Im Spital gingen die Ärzte zunächst von einer Vergiftung aus – sie spritzten Nawalny das Gegengift Antropin und versetzten ihn in ein künstliches Koma. Später ändert die Version der Ärzte. Der Patient habe ein Stoffwechselproblem, Giftstoffe seien keine festgestellt worden.

Nawalnys Familie bestand darauf, ihn nach Deutschland auszufliegen, die russischen Ärzte weigerten sich mit der Begründung, Nawalny sei nicht transportfähig. Schliesslich setzte sich Angela Merkel mithilfe des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö erfolgreich für eine Verlegung nach Deutschland ein. Die deutsche Kanzlerin, so schreibt der «Spiegel», lasse sich seither täglich über den Zustand des Russen informieren. Die Ärzte der Charité bestätigten schliesslich, was viele vermutet hatten: Nawalny war mit einem chemischen Kampfstoff der «Nowitschok»-Gruppe vergiftet worden. Weswegen und von wem? Es gibt im Westen einige Theorien.

Gefährliches Video: In einem 40 Minuten langen Video hatte Nawalny über die Regionalwahlen referiert und dabei einzelne einflussreiche Politiker, ihre Arbeit und ihr Vermögen beleuchtet. Mit dem Video machte er sich keine neuen Freunde.

Die Regionalwahlen und das «schlaue Wählen»: Letzten Herbst folgten viele Menschen Nawalnys Aufruf, die stärkste Konkurrenz der jeweiligen Regierungspartei zu wählen. Diese Strategie soll auch bei den diesjährigen Regionalwahlen im September dazu führen, Putin und seine Partei Einiges Russland zu schwächen. Nawalnys Mitarbeiter vermuten, dies sei ein Grund für den Angriff.

Der Massenprotest in Belarus: Am Wahltag in Belarus hatten Nawalnys Leute eine sechsstündige Dauersendung ausgestrahlt und triumphiert: Was dort passiere, könnte ein Vorgeschmack davon sein, was im kommenden Jahr anlässlich der russischen Wahlen geschehen könnte. «Das, was der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko machte – nämlich die Opposition erst kurz vor den Wahlen auszuschliessen –, möchte Putin verhindern. Er will nicht von Ereignissen überrannt werden oder eine oppositionelle Dynamik aufkommen lassen», sagte Belarus-Experte Sven Gerst unlängst im Interview mit 20 Minuten.

Der Auftraggeber: Viele Beobachter bezweifeln, dass ein Vergiftungsbefehl direkt vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gekommen sei. Dieser dürfe, wie bereits in der Vergangenheit, eine solche Aktion aber billigend in Kauf nehmen. Die Politologin Tatiana Stanovaya sieht denn auch die Vergiftung Nawalnys als Beleg dafür, «dass der Auftraggeber des Anschlags der Macht nicht nur nahesteht, sondern auch auf Instrumente zurückgreifen kann, die in die Domäne der Sicherheitsdienste fallen.»

«Die Summe verschiedener Gründe»

Nach einer Einschätzung gefragt, welche dieser Theorien am plausibelsten seien, schrieb Osteuropa-Experte Jeronim Perovic* 20 Minuten: «Es ist die Summe verschiedener Gründe, die wohl den Ausschlag für den erneuten Anschlag auf Nawalny gegeben haben – und insbesondere der Volksaufstand in Belarus hat dabei sicher eine Rolle gespielt. Denn vor nichts fürchtet sich das Regime mehr als vor dem Gespenst einer Revolution, obwohl die Oppositionsbewegung in Russland eigentlich eher schwach und unorganisiert ist. Allerdings ist damit noch lange nicht bewiesen, dass der Kreml oder gar Putin selbst hinter dem Anschlag steht.»

Mittlerweile hat der Kreml hat Anschuldigungen zu einer möglichen Verwicklung in den Fall des vergifteten Kremlkritikers Alexei Nawalny zurückgewiesen. «Es gibt keinen Grund, dem russischen Staat etwas vorzuwerfen», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Deshalb sehe er auch keinen Anlass für irgendwelche Sanktionen, die gegen Russland oder gegen die Ostsee-Pipline Nord Stream 2 verhängt werden könnten.

«Sanktionen bewirken keine politische Kursänderung»

Tatsächlich steht seit der Vergiftung Nawalnys die Forderung im Raum, das milliardenschwere Pipeline-Projekt auf den Prüfstand zu stellen, das mehr russisches Gas nach Westeuropa bringen soll. Auch die Möglichkeit neuer Sanktionen gegen Russland werden in Brüssel wieder debattiert.

«Es wäre eine Illusion zu glauben, der Westen könne Moskau mit Sanktionen zu einer politischen Kursänderung bewegen», meint dazu Osteuropa-Experte Perovic. «Klar ist aber auch, dass die Sanktionen der russischen Wirtschaft geschadet haben und man auf russischer Seite eine Aufhebung oder zumindest eine Lockerung anstrebt. Der Anschlag kommt somit auch für Moskau ungelegen.»

Nichtsdestotrotz könne nicht erwartet werden, dass der Kreml die Hintergründe des Anschlags auf Nawalny transparent und gründlich werde aufarbeiten lassen. Perovic: «Leider werden wir wohl damit rechnen müssen, dass der Fall Nawalny die ohnehin schon angespannten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland noch zusätzlich belasten wird. Das ist bedauerlich, denn es schien in den letzten Wochen Anzeichen für eine gewisse Entspannung mit Blick auf die Ukrainekrise gegeben zu haben.»

*Jeronim Perovic unterrichtet osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich und leitet das Center for Eastern European Studies (CEES), das sich mit gegenwartsbezogenen Fragen Osteuropas befasst.

Nato

Giftanschlag wird Folgen haben

Der Giftanschlag auf Alexei Nawalny ruft die Nato auf den Plan. Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte am Freitag, die Mitgliedsstaaten des Verteidigungsbündnisses würden prüfen, welche Folgen der Vorfall haben werde. Eine internationale Antwort sei notwendig.

Das Moskauer Präsidialamt hat eine Verantwortung im Zusammenhang mit dem Anschlag zurückgewiesen. Einem Medienbericht zufolge gehen die russischen Behörden inzwischen einem Mordverdacht nach. Die Moskauer Regierung zeigte sich zudem zuletzt gesprächsbereit. (sda)

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