Familien verlassen IS-Hochburg«Der IS fährt hier eine clevere Strategie»
Dutzende Zivilisten und Familienangehörige von IS-Kämpfern konnten am Mittwoch den umzingelten Ortsteil von Baghuz verlassen.
Hunderte Familienangehörige von IS-Kämpfern haben die letzte Bastion der Terrormiliz verlassen – wobei Bastion es nicht wirklich trifft: Die aktiven IS-Jihadis harren auf wenigen Hundert Quadratmetern aus, in schätzungsweise zweihundert Zelten und einer Handvoll Gebäude.
Ans Aufgeben denken sie nicht. Immer wieder sind Salven von Maschinengewehren zu hören, Autobomben detonieren, nachts gehen Dutzende Luftschläge auf sie nieder. Niemand weiss, wie viele Kämpfer sich noch in dieser Zeltstadt bei der Kleinstadt Baghuz verschanzen. Auch ist unklar, wie viele Zivilisten sie als menschliche Schutzschilde missbrauchen – oder ob sie noch westliche Geiseln wie etwa den britischen Fotografen John Cantlie festhalten.
«Ein Kilo Brot kostet 15 Dollar»
Ihre Familien aber beginnen die IS-Kämpfer jetzt wegzuschicken: Am Mittwoch fuhren 40 Lastwagen der kurdisch geführten Syrian Democratic Forces (SDF) vor die IS-Siedlung. Es dauert gut einen Tag, bis die vielen Frauen und Kinder in die Laster gebracht werden können. Viele von ihnen sind unterernährt und körperlich in schlechtem Zustand. «Ein Kilo Zucker kostet 60 Dollar, ein Kilo Brot – aus Sesam und Dreck zusammengebacken, kostet 15 Dollar», berichtet ein Mann, dem vor zwei Tagen die Flucht gelungen ist.
Die, die jetzt abtransportiert werden, haben Angst vor denen, die sie aus dieser Hölle holen wollen: Der IS hat ihnen erzählt, die SDF-Kämpfer würden ihnen ihr letztes Geld wegnehmen und sie töten. «Es kommt mir vor, dass der IS hier eine clevere Strategie fährt, indem er jetzt seine Kinder wegbringen lässt. Gerade die Älteren sind vollkommen indoktriniert, vergiftet mit dem IS-Hass», sagt ein SDF-Soldat, der seinen Namen nicht nennen will. «Es wird sich zeigen, ob sie diese Gehirnwäsche ablegen können oder ob sie die neue IS-Generation sind, die jetzt die Propaganda übernimmt.»
Die Kindern winken nicht zurück
Als die Laster vorbeifahren, sind Dutzende doppelt verschleierte Frauen zu sehen. Sie tragen schwarze Handschuhe – nicht wegen der Kälte, sondern weil sie als IS-Frauen keine Haut zeigen dürfen. Kinder und Teenager spienzeln von den Ladenflächen herab. Die Männer werden getrennt abtransportiert. Sie sind älter und unbewaffnet, vereinzelt haben sie Krücken dabei. Alle tragen den Bart auf die Länge gestutzt, die der IS vorschreibt. Niemand lächelt. Die Kindern winken nicht zurück, wenn man ihnen zuwinkt.
Die IS-Familien werden jetzt zu einem Stützpunkt mitten in der Wüste gebracht. Hier nimmt man ihre Fingerabdrücke, auch DNA-Tests kommen zur Anwendung. Ausweispapiere haben die wenigsten auf sich. Verlorene Ausweispapiere und Handys machen klar: Es sind viele Ausländer unter den IS-Familien. 20 Minuten hat die weggeworfene ID eines Mannes aus Bosnien-Herzegowina gefunden. Auf der SIM-Karte eines verlorenen Handys sind Fotos einer Frau mit blasser Haut, blonden Haaren und blauen Augen. Sie könnte Deutsche, Französin, Britin oder auch Schweizerin sein.