Der Mann, der Brasilien zum Weinen brachte

Aktualisiert

WM-Serie: 1982Der Mann, der Brasilien zum Weinen brachte

«Ho fatto piangere il Brasile» lautet der Titel seiner Autobiografie. Die Weltmeisterschaft 1982 ist untrennbar mit dem Namen Paolo Rossi verbunden.

Sandro Compagno
von
Sandro Compagno

Es war eine WM, an der er eigentlich gar nicht hätte teilnehmen sollen. 1979 war Paolo Rossi mit Perugia in einen Manipulationsskandal («Totonero») verwickelt. Ein 2:2 in der Serie A zwischen Perugia und Avellino war geschoben worden, Rossi hatte in dieser Partie beide Tore für Perugia geschossen und beteuert bis heute seine Unschuld. Trotzdem wurde er 1980 zu einer dreijährigen Sperre verurteilt.

Den Weg nach Perugia hatte der Toskaner aus Prato, der als Teenager von Juventus Turin entdeckt wurde, via Como und Lanerossi Vicenza gefunden. Vicenza teilte sich mit Juventus die Transferrechte am schmächtigen Stürmer. 1977 schoss er Lanerossi in die Serie A, im Jahr darauf zur Vize-Meisterschaft hinter Juventus. Als erster Fussballer wurde Rossi in zwei aufeinanderfolgenden Jahren Torschützenkönig der Serie B und der Serie A.

«Die unbarmherzige Kälte eines Toreros»

Rossi war schmächtig, wog 67 Kilogramm bei 1.74 Meter Körpergrösse. Seine körperlichen Defizite machte er mit Schlauheit wett. Der legendäre italienische Sportjournalist Giorgio Tossati attestierte ihm einst «die Grazie eines Balletttänzers und die unbarmherzige Kälte eines Toreros». Rossi selber erklärte seinen Torriecher so: «Im Strafraum habe ich immer versucht, jeden kleinen Fehler der Verteidiger auszunützen, um dann zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein.»

In Perugia war er definitiv nicht am richtigen Ort. Dass er dorthin kam, gründete in einer seiner zahlreichen Verletzungen. Noch 1978 war Rossi das Objekt eines Transferschachers zwischen Juventus und Lanerossi geworden. Juve-Präsident Giampiero Boniperti wollte die 50 Prozent der Transferrechte zurück, die er nach Vicenza verkauft hatte. Lanerossi-Präsident Giuseppe Farina forderte 2 Milliarden 612 Millionen Lire, umgerechnet 500'000 Franken. «Der Sport ist wie die Kunst, und Paolo ist die Gioconda unseres Fussballs», begründete Farina die für damalige Zeiten unverschämte Summe, die den Deal platzen liess. Die folgende Saison war keine glückliche für die «Mona Lisa» von Vicenza. Er erlitt eine Knieverletzung und seine 15 Tore reichten nicht, um den Vize-Meister vor dem Sturz in die Serie B zu bewahren.

Der Totonero-Skandal

Lanerossi lieh Rossi für jährlich 500 Millionen Lire zwei Jahre nach Perugia aus. Um die Summe zu refinanzieren, lief der aufstrebende Klub aus Umbrien 1979 als erster Klub in Italien mit einem Trikotsponsor auf. Der «Totonero»-Skandal in dieser Saison traf nicht nur Paolo Rossi als Person, sondern auch Perugia Calcio als Verein, der mit fünf Minuspunkten bestraft wurde und am Ende der Saison abstieg.

Die Begnadigung

Paolo Rossi war draussen, überlegte sich sogar auszuwandern, doch Juventus-Präsident Boniperti liess ihn nicht fallen. Er holte den verlorenen Sohn nach Turin zurück, wo er zwar nicht spielen durfte, sich aber mit der ersten Mannschaft fit hielt. Im März 1982 wurde seine dreijährige Sperre aufgehoben und Rossi bestritt die letzten drei Spiele der Meisterschaft, die für Juve im 20. Scudetto endete. Italiens Nationaltrainer Enzo Bearzot bot ihn sogleich für die Weltmeisterschaft 1982 auf und sorgte in Italien für heftige Diskussionen, weil er dafür Roberto Pruzzo zuhause liess, den Torschützenkönig der Serie A 1981 und 1982.

Die Kritiker schienen recht zu behalten. In Spanien quälte sich Italien mit drei Unentschieden (0:0 gegen Polen, 1:1 gegen Peru, 1:1 gegen Kamerun) in die zweite Gruppenphase. Rossi stand dreimal in der Startelf, ohne wirklich auf dem Feld zu sein. Kein Vergleich zu jenem Paolo Rossi, der schon 1978 an der WM in Argentinien dabei war, drei Tore schoss, den Italienern zu Platz 4 verhalf und dabei zum Spitznamen Pablito kam. In der zweiten Runde des damals 24 Mannschaften umfassenden Turniers bekam es Italien mit den Schwergewichten Argentinien und Brasilien zu tun.

Im ersten Spiel blieb Rossi erneut blass. Der rustikale Verteidiger Claudio Gentile meldete den argentinischen Superstar Diego Maradona 90 Minuten mit Zähnen und Klauen ab, Italien gewann dank Toren von Franco Tardelli und Antonio Cabrini 2:1. Da Brasilien den Weltmeister von 1978 mit 3:1 bezwang, mussten die Italiener im letzten Spiel dieser zweiten Gruppenphase unbedingt siegen, wollten sie als Gruppensieger in die Halbfinal.

Die Jahrhundert-Mannschaft

Die Brasilianer hatten zuvor das Publikum mit ihrem offensiven, spektakulären Fussball verzückt und in vier Spielen ganze 13 Tore geschossen. Namen wie Socrates, Zico oder Falcao rissen Fussball-Liebhaber rund um den Globus zu Begeisterungsstürmen hin. Anders die Italiener. Sie hatten sich nach heftiger Kritik der heimischen Presse, teilweise unter der Gürtellinie, in ein «Silenzio stampa» zurückgezogen. Bearzot nominierte auch im Estadi Sarrià in Barcelona seinen Torlos-Stürmer Paolo Rossi. Und tatsächlich schoss Rossi die Italiener nach fünf Minuten in Führung, als er sich im Rücken von Luizinho davonschlich und eine Cabrini-Flanke zum 1:0 einköpfelte. Später beschrieb er das Tor wie folgt: «Es war eine Befreiung. Es ist unglaublich, wie eine Episode dich radikal verändern kann, die physische und mentale Blockade war mit einem Schlag weg. Nach diesem Tor folgte alles ganz natürlich.»

Was folgte, war einer der unglaublichsten Siege Italiens und eine brasilianische Tragödie. Socrates glich zum 1:1 aus, Rossi traf zum 2:1, Falcao glich erneut aus, Rossi komplettierte mit dem 3:2 in der 75. Minute seinen persönlichen Hattrick und besiegelte das Ausscheiden der so unglaublich talentierten Brasilianer. Einer brasilianischen Mannschaft, die wirkte wie ein Ferrari mit Anhängerkupplung: In der Offensive kraftvoll, kreativ, ungebändigt von taktischen Fesseln, in der Abwehrarbeit jedoch mit schweren Defiziten. Das Jahrhundert-Team war gescheitert und mit ihm auch «futebol arte», wie es die Brasilianer damals nannten. Nicht der schöne Fussball hatte gesiegt, sondern der realistische, verkörpert von den disziplinierten Italienern, veredelt vom schlauen Torjäger Paolo Rossi.

«Eine gewisse Bitterkeit»

Im Halbfinal schoss Rossi gegen Polen beide Tore zum 2:0-Sieg der Italiener, auch im Final gegen Deutschland eröffnete er das Skore, als er eine Flanke von Gentile (Ja, der konnte auch ein wenig Fussball spielen!) im deutschen Tor unterbrachte. Italien gewann 3:1 und wurde zum dritten Mal nach 1934 und 1938 Weltmeister. «In mir drin spürte ich eine gewisse Bitterkeit», erinnert sich der Topskorer des Turniers an die Momente nach dem Schlusspfiff. «Ich dachte: Stoppt die Zeit, es kann nicht schon zu Ende sein, ich werde diesen Moment nie mehr erleben.»

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