«Der Schuss ist nach hinten losgegangen»

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ÖV-Präsident zu Maskenempfehlung«Der Schuss ist nach hinten losgegangen»

Neun von zehn Personen tragen keine Maske im ÖV, resümiert der Präsident des Verbands öffentlicher Verkehr im Interview. Für ihn ist «der Schuss nach hinten losgegangen». Sein Appell: Pendler, geniert euch nicht für die Maske.

Norbert Schmassmann ist Präsident des Verbands öffentlicher Verkehr und Direktor der Verkehrsbetriebe Luzern. Er gibt zu: «Die Hoffnung, dass die Pendler von sich aus Masken tragen würden, hat sich nicht bestätigt.»
Trotz Maskenempfehlung und Kampagne trügen «neun von zehn Personen» keine Masken im ÖV.
«In meinen Augen ist der Schuss nach hinten los», sagt Schmassmann im Interview.
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Norbert Schmassmann ist Präsident des Verbands öffentlicher Verkehr und Direktor der Verkehrsbetriebe Luzern. Er gibt zu: «Die Hoffnung, dass die Pendler von sich aus Masken tragen würden, hat sich nicht bestätigt.»

Foto: Keystone

Darum gehts

  • Der ÖV verkehrt wieder zum Regelfahrplan, die Züge füllen sich wieder.
  • Trotzdem hält sich kaum jemand an die Maskenempfehlung der Transportunternehmen.
  • «Die Hoffnung, dass die Pendler von sich aus Masken tragen würden, hat sich nicht bestätigt», sagt Norbert Schmassmann, Präsident des Verbands öffentlicher Verkehr.
  • Der Schuss sei nach hinten losgegangen, sagt er im Interview. Und mit Maskenpflicht sähe es laut ihm wohl besser aus.

Herr Schmassmann, die Züge füllen sich wieder, Schüler fahren wieder zur Schule, immer mehr Personen kehren wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Eine Maske trägt nur eine winzige Minderheit. Was ist schiefgelaufen?

Die Hoffnung, dass die Pendler von sich aus Masken tragen würden, hat sich nicht bestätigt. Wir rechneten mit mehr sozialer Kontrolle. Dass man schräg angeschaut wird, wenn man keine Maske trägt. Wäre die Empfehlung von Anfang an mehrheitlich befolgt worden, hätte das vielleicht geklappt. Aber in meinen Augen ist der Schuss nach hinten losgegangen. Einige hatten anfänglich eine Maske an und mussten feststellen, dass die Mehrheit nicht mitmacht. Jetzt ist das Gegenteil der Fall, und neun von zehn Personen tragen keine Maske.

Dabei empfehlen die Transportunternehmen weiterhin das Maskentragen. Wieso kommt diese Empfehlung bei den Pendlern nicht an?

Die Kampagne war glasklar, aber es war immer nur eine Empfehlung. Niemand überprüfte, dass alle eine Maske tragen. Dass die Pendler ihr nicht folgen, hat sicher mit der Gruppendynamik und einer gewissen Freiheitsliebe zu tun. Aber mit den Lockerungen ist auch der Drang da, wieder in die Normalität zurückkehren zu können. Dies und die sinkenden Ansteckungszahlen bringen auch eine gewisse Nachlässigkeit mit sich.

Sähe es mit Tragepflicht besser aus?

Ich denke schon. Wenn das Maskentragen im ÖV eine Vorschrift wäre und ein Verstoss mit einer Busse sanktioniert würde, hätte das schon eine Wirkung. Dann hätten die Transportunternehmen auch Masken verteilt oder verkauft.

Die Transportunternehmen wirken ratlos, trotzdem wehren sie sich gegen eine Maskenpflicht. Weshalb?

Es war klar, dass sich die Bahnen wieder füllen würden, wenn die Leute nach dem Lockdown aus dem Homeoffice kommen würden. Deshalb auch die Maskenempfehlung. Aber als Branche wollen wir nicht stigmatisiert werden. Wir möchten nicht der einzige Ort sein, wo man eine Maske tragen muss. Sonst hat man das Gefühl, dass man sich nur im ÖV anstecken kann. Wenn es im ganzen öffentlichen Raum eine Maskentragepflicht gäbe, würden wir nachziehen. Dann könnten wir damit leben. Bis dahin appellieren wir an die Selbstverantwortung.

Was ist Ihre Botschaft an die Pendler?

Geniert euch nicht, eine Maske zu tragen. Habt den Mut, zu eurer Maske zu stehen. Nehmt die Empfehlung ernst.

Braucht es andere Massnahmen als die Maskenempfehlung? Etwa Namenslisten oder Plexiglas wie im Restaurant?

Eine Namensliste zu führen, ist illusorisch. Aber Abtrennungen aus Plexiglas in den Zügen werden gegebenenfalls geprüft. Und in den Bussen überlegt man sich, den Fahrer mit einer Scheibe abzuschirmen. Weitere Massnahmen sind im ÖV fast nicht möglich.

Die SBB hatte die Idee, als Kompromiss einzelne Waggons mit Maskenpflicht einzuführen. Wird das noch weiterverfolgt?

Die Idee ist da. Wie stark sie noch weiterverfolgt wird, weiss ich nicht. Die Waggons mit Maskenpflicht zielen aber weniger auf Pendler, sondern vor allem auf Touristen ab. Sie sollen sich beim Reisen sicher fühlen.

Ein lückenloses Contact-Tracing sei jetzt wichtig, sagt das BAG immer wieder. Doch wie lässt sich das in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wo niemand seinen Sitznachbarn kennt, gewährleisten?

Im ÖV ist eine Rückverfolgung nicht möglich. Mit einem Ticket vom Automaten oder einem Abonnement ist man völlig anonym unterwegs. Nur die Tracing-App kann helfen, doch dafür muss sie breit genutzt werden.

Mittlerweile gilt wieder der reguläre Fahrplan. Wie hoch ist die Auslastung im ÖV jetzt?

Unterdurchschnittlich. Ich rechne damit, dass es zwei Jahre braucht, bis sich die Auslastung wieder erholt hat. Die Leute machen jetzt vermehrt Homeoffice oder fahren lieber mit dem Velo oder Auto zur Arbeit als mit dem ÖV, das spüren wir. So verlieren wir Fahrgäste, wohl auch längerfristig.

Werten Sie das positiv oder negativ?

Solange der ÖV weniger ausgelastet ist, können die Abstandsregeln besser eingehalten werden. Aber für uns als Transportunternehmen führt das zu einem viel höheren Defizit, weil die Kosten gleich hoch bleiben. Es entsteht ein finanzielles Loch, dass die Politik jetzt decken muss.

Gegen Homeoffice-Empfehlung

SBB will Pendler zurück

Die BAG-Empfehlung, möglichst im Homeoffice zu arbeiten, gilt nach wie vor. Bei allen Lockerungen blieb sie bestehen. Das passt der SBB offenbar nicht, denn sie will wieder mehr Passagiere in den Zügen. Die Empfehlung des Bundes habe «grosse Auswirkungen auf die Pendlerströme», heisst es laut dem «Tages-Anzeiger» in einem vertraulichen Sitzungsprotokoll der Transportunternehmen im öffentlichen Verkehr.

Die SBB lobbyiert für deren Aufhebung: «Die SBB hat deshalb lanciert, dass im Bundesstab für Bevölkerungsschutz eingebracht wird, diese Aussage jetzt zu relativieren, da viele Unternehmungen wieder zur Normalität zurückkehren werden», steht im Protokoll wörtlich. SBB-Sprecher Martin Meier erklärt, man habe beim Bund keinen Antrag gestellt und das Thema unter vielen an der Sitzung besprochen. Trotzdem sei es im Interesse aller, wenn der ÖV – unter Einhaltung des Schutzkonzeptes – wieder stärker genutzt würde.

Derweil schliesst das BAG mittlerweile nicht mal mehr eine Maskenpflicht aus: «Das BAG und der Bundesrat diskutieren solche Fragen zurzeit», sagt Sprecher Daniel Dauwalder. Man werde am 19. Juni abhängig vom weiteren Verlauf der Pandemie entscheiden.

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