Immer mehr GeimpfteDer soziale Druck auf Ungeimpfte steigt
Immer mehr Geimpfte und Ungeimpfte fühlen sich von ihrem Umfeld bedrängt. Eine Ethikerin appelliert daran, sich an die Fakten zu halten. Sie sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Gefahr.
Darum gehts
14 Prozent der Bevölkerung sind sich noch unschlüssig, ob sie sich impfen lassen wollen oder nicht.
Doch der soziale Druck auf Ungeimpfte steigt.
Von Anfeindungen sind aber auch Geimpfte betroffen.
Leserinnen und Leser berichten.
Eine Ethikerin erklärt, wie damit umzugehen sei.
Knapp sieben Millionen Impfdosen wurden in der Schweiz bereits verabreicht. Damit nähert sich die Schweiz ihrem Ziel, alle Impfwilligen zweimal zu impfen. Trotzdem sind sich einige noch unsicher, ob sie sich gegen Corona impfen lassen wollen.
Das zeigt eine Umfrage von 20 Minuten, die im Rahmen der letzten Abstimmungen im Juni durchgeführt wurde. So gab mehr als jede fünfte befragte Person an, dass der persönliche Entscheid, sich impfen zu lassen, schwierig oder eher schwierig war. 15 Prozent lehnen die Impfung kategorisch ab. 14 Prozent sind noch unsicher, ob sie sich immunisieren lassen wollen. Laut Experten braucht es für die Herdenimmunität 70 bis 80 Prozent Geimpfte.
Auf dem Weg zur angestrebten Herdenimmunität rücken nun die Unentschlossenen in den Fokus. Gegenüber 20 Minuten forderte Economiesuisse-Chefökonom Rudolf Minsch gezielte Kampagnen, um die Unentschlossenen zu überzeugen. Dies schlägt sich auch im sozialen Umfeld der Unentschlossenen nieder. Auch bereits Geimpfte erleben in ihrem Umfeld Mobbing, wie folgende Beispiele zeigen.
Belinda (38)*
«Ich fühle mich unter Druck gesetzt, weil ich mich nicht impfen lassen will. Dass der Bundesrat das auch bei den Jugendlichen macht, indem man nur noch mit Zertifikat an Partys gehen darf, geht gar nicht. Mittlerweile vermeide ich Diskussionen über dieses Thema, das auch bei der Arbeit jeden Tag diskutiert wird. Ich sage dann aber klar, dass ich mich nicht impfen lasse.»
Helene (62)*
«Leider fühle ich mich unter Druck gesetzt. Sobald man sagt, dass man sich nicht impfen lassen möchte, wird man als asozialer Mensch abgestempelt. Die Diskussionen werden dann sofort emotional und sind nicht mehr sachlich, was ich als grosses Problem sehe.»
Mattea (24) *
«Ich habe mich impfen lassen, da ich der Meinung bin, dass man nur so die Pandemie in den Griff bekommt. Dafür wurde ich von Arbeitskollegen und Freunden stark kritisiert, da dieser Impfstoff ja dafür da sei, um den Menschen zu schaden. Es wurden sehr kritische Aussagen gemacht, welche ich den typischen Verschwörungstheoretikern zuordne. Dennoch werde ich zum zweiten Impftermin gehen, denn ich halte das für richtig.»
Ashley (51)*
«Mir war von Anfang an klar, dass ich mich impfen lassen will. Alle in meinem Umkreis haben mich gewarnt und mir stundenlang zu erklären versucht, wieso die Impfung gefährlich sei. Am Anfang habe ich noch mitdiskutiert, doch mit der Zeit hatte ich es satt. Jetzt leugne ich und sage, dass ich noch nicht geimpft bin. Das macht mir Mühe, doch ich habe Angst, dass ich sonst meine Freunde verliere.»
«Das führt zu einer tiefen Spaltung»
Ruth Baumann-Hölzle leitet das Institut Dialog Ethik. «Wir nehmen klar wahr, dass in der Auseinandersetzung mit der Impffrage stark auf die Person gezielt wird und wenig faktenbasierter Austausch stattfindet. Es wird von den Befürwortern wie von den Gegnern sehr stark mit der Moralkeule argumentiert», sagt sie. Ohne die nötigen Grundinformationen – also einem faktenbasierten Vergleich, welche Risiken man mit einer Impfung eingeht und welche, wenn man sich nicht impfen lässt – komme es zu einem emotionalen Schlagabtausch: «Man ist entweder dafür oder dagegen. Das Gegenüber, das anderer Meinung ist, wird per se abgestempelt. Das führt zu einer tiefen Spaltung und bringt den Zusammenhalt der Gesellschaft in Gefahr», sagt die Expertin.
Sowohl auf der persönlichen wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene habe die Auseinandersetzung über die Impffrage laut Baumann-Hölzle schon eine gefährliche Eskalationsstufe erreicht: «Das Gegenüber ist längst nicht mehr nur ein Andersdenkender, sondern bereits ein Gegner oder gar ein Feind. Damit werden Freundschaften und Beziehungen aufs Spiel gesetzt und die Gräben in der Gesellschaft vertiefen sich. Das beschäftigt mich sehr.»
Klare Richtlinien
Die Ethikerin sieht zwei Lösungsansätze: «Für die ganze Gesellschaft braucht es – wie im Pandemieplan der Schweiz verlangt – eine Aufarbeitung der Ereignisse rund um die Pandemie, die von den Behörden angestossen werden muss. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, welche Narben diese Pandemie im sozialen Gefüge hinterlassen hat, und wie wir sie heilen können.» Für zukünftige Pandemien müssten klare Richtlinien erarbeitet werden, wie gefährlich eine Krankheit sein muss, um direkte und indirekte Zwangsmassnahmen zu rechtfertigen.
Im persönlichen Bereich rät Baumann-Hölzle, sich bei der Auseinandersetzung um die Impfung darauf zu besinnen, was einem eine Beziehung wert ist: «Es hilft, sich bewusst zu werden, dass sich zwei Ängste einander gegenüberstehen: die Angst, an Covid zu erkranken und die Angst vor der Impfung. So kann man das Gegenüber verstehen. Und erinnern wir uns daran, dass wir einander gerne haben und trotzdem anderer Meinung sein können.»
Hast du oder hat jemand, den du kennst, Mühe mit der Coronazeit?
Hier findest du Hilfe:
BAG-Infoline Coronavirus, Tel. 058 463 00 00
BAG-Infoline Covid-19-Impfung, Tel. 058 377 88 92
Dureschnufe.ch, Plattform für psychische Gesundheit rund um Corona
Safezone.ch, anonyme Onlineberatung bei Suchtfragen
Branchenhilfe.ch, Ratgeber für betroffene Wirtschaftszweige
Hotline bei Angststörungen und Panik, Tel. 0848 801 109
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
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