Missgunst gegenüber Ukrainern«Der wachsende Neid auf Geflüchtete schadet der Schweizer Gesellschaft»
Gratis-ÖV, Solidarität, schnelle Integration in den Arbeitsmarkt: Der Umgang mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern ruft Neid hervor. Das sei oft unbegründet, sagt eine Sozialwissenschaftlerin.
Darum gehts
Geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer erfahren viel Solidarität in der Schweiz. Lange konnten sie die öffentlichen Verkehrsmittel gratis benutzen und mit dem Schutzstatus S wird die schnelle Integration in den Arbeitsmarkt angestrebt. Das kommt nicht bei allen gut an: Einige entwickeln Missgunst gegenüber den Kriegsgeflüchteten. In den sozialen Medien häufen sich Beiträge, in denen darüber geklagt wird, dass man sich selber auch gerne ein GA leisten könnte oder trotz Bemühungen seit Jahren arbeitslos sei.
In einem Tiktok von 20 Minuten über Anya, die nach ihrer Flucht aus Kiew ein Praktikum bei 20 Minuten fand, sind viele Userinnen und User in den Kommentaren neidisch. So schreibt ein Kommentator: «Kollege, ich war ein halbes Jahr beim RAV angemeldet und habe nicht ein Bewerbungsgespräch erhalten. Und dann ist auf einmal Krieg und Zack hat sie ein Praktikum.»
Woher kommt der Neid gegenüber Ukrainern?
Laut der Soziologin Katja Rost ist Neid immer eine Folge von sozialen Vergleichen. «Schneidet man schlechter ab als jemand anderes, führt das zu Frustration, Missgunst und Neid. Oft ist das jedoch unbegründet, denn Betroffene haben nur ein limitiertes Bild der Situation und verweigern sich der ganzen Wahrheit», sagt Rost. So wüssten Kommentatoren beispielsweise nichts über den Bildungsstand einer oder eines Geflüchteten, durch den sie oder er im Vergleich zur Schweizerin oder zum Schweizer besser für die Stelle qualifiziert sei. «Betroffene suchen häufig Schuldige für das eigene Versagen – in diesem Fall die Flüchtlinge.»
Hinzu kommen laut Rost Vorurteile und eine generell negative Haltung gegenüber Geflüchteten. «Das Narrativ, dass Flüchtlinge den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen, ist in gewissen Teilen der Gesellschaft weit verbreitet. Die grosse Solidarität und Unterstützung gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern verstärkt dies weiter. Viele Einheimische haben deshalb das Gefühl, ungleich behandelt zu werden.»
Beneidest du andere oft?
Wie wirkt sich Neid auf die Gesellschaft aus?
«Leider ist es normal, dass eine Gesellschaft von Neid geprägt ist», sagt Rost. Das hinterlasse Spuren, etwa in einem aggressiven Verhalten. «Am Ende des Tages kann man es nicht allen recht machen. Deshalb sollten von Neid Betroffene versuchen, sich in einem anderen Bereich sozial zu vergleichen, in dem sie besser abschneiden.» Gerade bei existenziellen Themen wie der Arbeit sei das jedoch schwierig. «Nur selten bewirkt Neid auch Positives, zum Beispiel eine gesteigerte Motivation, etwas Bestimmtes zu erreichen», so die Soziologin.
Laut der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes sind Diskriminierung und Rassismus Alltag für Geflüchtete. «Der S-Status gibt vielen das Gefühl, dass ukrainische Geflüchtete bevorzugt behandelt werden, etwa beim Zugang zu Arbeit», sagt Marianne Helfer. «Wenn Menschen Privilegien wie den problemlosen Zugang zum Arbeitsmarkt bedroht sehen, kann es zu Konflikten oder rassistischen Äusserungen kommen.» Wie stark ukrainische Geflüchtete von Diskriminierung betroffen seien, kann die Leiterin der Fachstelle für Rassismusbekämpfung nicht in Zahlen ausdrücken. Es gebe aber sehr viele positive Zeichen. «Fakt ist: Die Solidarität ist immer noch sehr hoch.»
«Angst vor Arbeitsplatzverlust verfestigt sich»
Der Flüchtlingshilfe und die Stiftung gegen Rassismus (GRA) sind keine Fälle von Diskriminierung gegenüber ukrainischen Geflüchteten bekannt. Trotzdem sei es leider ein allgemein bekanntes Phänomen, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung meine, es ginge Geflüchteten besser, sagt Pascal Pernet, Präsident der GRA. «Hinzu kommt die aktuelle wirtschaftliche Unsicherheit. Damit verfestigt sich die Vorstellung, Flüchtlinge würden Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen.» Ein Blick auf die Arbeitslosenquote zeige jedoch, dass dieses Argument unbegründet sei: «Schlussendlich ist es einfacher, eine Minderheit zum Sündenbock zu machen. Das hat die Geschichte leider immer wieder bewiesen.»
Beschäftigt dich oder jemanden, den du kennst, der Krieg in der Ukraine?
Hier findest du Hilfe für dich und andere:
Fragen und Antworten zum Krieg in der Ukraine (Staatssekretariat für Migration)
Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, Tel. 058 400 47 77
Kriegsangst?, Tipps von Pro Juventute
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Anmeldung und Infos für Gastfamilien:
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tel. 058 105 05 55