Erster WeltkriegDer Weg in die Urkatastrophe
Die Debatte um den Auslöser für den Ersten Weltkrieg wird zu Beginn des Gedenkjahres 2014 neu geführt. Vor allem die Hauptschuld des Deutschen Reichs wird in Frage gestellt.
Nach dem Krieg schien die Lage klar: Im Friedensvertrag von Versailles vom Mai 1919 wurde festgelegt, dass das Deutsche Reich und seine Verbündeten «als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind». Der so genannte Kriegsschuldartikel bildete auch die Grundlage für die umfangreichen Reparationszahlungen, die Deutschland zu leisten hatte. Vor allem in Frankreich gilt das Streben der Deutschen nach Weltmacht immer noch als Hauptgrund für die «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» - und auch in Deutschland teilen heute viele diese Einschätzung.
Doch nun begann schon vor Beginn des Gedenkjahres 2014 die Debatte, wer den Ersten Weltkrieg wirklich ausgelöst habe. Angesehene Experten stellten die alten Gewissheiten in Frage. Vor allem der australische Historiker Christoph Clark zeichnet in seinem Buch «Die Schlafwandler» ein vielschichtigeres Bild von den Ereignissen, die zum «grossen Krieg» führten. Er versucht, eine gesamteuropäische Sicht einzunehmen und nicht den Blick einzelner Nationen.
Kompliziertes Bündnissystem
Das komplizierte Bündnissystem ist für ihn einer der Hauptgründe für den Krieg. Frankreich und England zogen noch 1896 beinahe gegeneinander in den Krieg, schlossen sich dann aber zur «Entente cordiale» zusammen, der später auch Russland beitrat. Ihnen gegenüber standen Deutschland und der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Alle verwickelten Akteure seien mitschuldig, weil sie die Komplexität und mögliche Probleme nicht erkannt hätten, meint Clarke. Nach dem Attentat von Sarajevo, das als Auslöser des Krieges gilt, hätten alle übereilt Entschlüsse gefällt und dann nicht mehr zurückkönnen.
Seine Thesen stossen auf grossen Widerhall - vor allem in Deutschland. Während sich das rechte und nationalistische Lager bestätigt fühlt und die deutsche Schuld so weit wie möglich relativieren will, finden andere, er sei zu viel zu deutschlandfreundlich. Diesen Vorwurf höre er hauptsächlich von Deutschen, sagte Clark an einer Podiumsdiskussion in Potsdam, wie die «Welt» berichtete.
Ein komplexeres Geschichtsbild akzeptieren
Doch auch die Franzosen horchen auf. Clarks Thesen passen nicht zu ihrer Sicht auf den Ersten Weltkrieg. Der ehemalige französische Verteidigungsministers Jean-Pierre Chevènement schrieb selber ein Buch zum Thema und benennt darin zwei Hauptgründe für den Krieg: das deutsche Grossmachtstreben und den Flottenrüstungswettlauf mit England. Andere Stimmen in Frankreich hingegen wollen laut «Welt» von den simplen Erzählungen und nationalen Mythen wegkommen und ein komplexeres Geschichtsbild salonfähig machen - was wohl für alle Nationen erstrebenswert wäre.
In der Fachwelt ist man sich auch nicht einig. Gefährlich wäre aber der Glaube an einen unglücklichen Zufall oder Betriebsunfall, für den niemand verantwortlich war. Die Akteure - Politiker und Generäle in Deutschland und anderswo - sollten nicht von der Verantwortung entbunden werden.