Im Namen der DemokratieDie Bewegung der Capitol-Stürmer ist gefährlich – und hat jetzt eine Märtyrerin
Die Capitol-Stürmer vom Mittwoch gehören einer Bewegung von Zehntausenden, vielleicht sogar Hunderttausenden Amerikanern an, welche «die Demokratie verteidigen». Auch das macht sie so gefährlich.
Von «Trump-Anhängern» ist im Zusammenhang mit dem Überfall auf das amerikanische Capitol jeweils die Rede. Aber wer sind die Leute, die in Hightech-Militärausrüstung, Konföderierten-Flaggen oder in Schamanen-Fellkleidung gehüllt das Parlament stürmten, während sich die Senatoren in Todesangst verschanzten?
Diese Amerikaner gehören einer Bewegung an, die «einfach nicht akzeptiert, dass die Regierung des Landes legitim ist», sagt Politologe und Extremismusforscher Peter Neumann vom London King’s College. «Dazu gehören Leute, die offensichtlich bereit sind, das Gesetz zu brechen, und, im Falle der USA, fast alle schwer bewaffnet sind.»
«Eine extremistische Herausforderung für die US-Regierung»
Diese Bewegung könnte sich Neumann zufolge zu einer langfristige Gefahr für die USA entwickeln: «Ich befürchte, dass sie sich in den nächsten Monaten und Jahren weiter radikalisieren und fortan eine extremistische Herausforderung für die US-Regierung darstellen wird.»
Inwieweit dies eintreten werde, hänge allerdings auch stark davon ab, wie Donald Trump nach seiner Präsidentschaft sich gegenüber solchen Anhängern verhalte: «Hagt er sie in Zukunft eher ein – oder bringt er sie dazu, noch extremere Massnahmen zu ergreifen?», so Neumann und fügt an: «Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Trump selten verantwortungsvoll handelt.»
«Unter den 20 Millionen gibt es noch einmal eine innere Gruppe»
Nicht, dass die Capitol-Stürmer vom Mittwoch für die über 71 Millionen Amerikaner stehen, die Trump für eine zweite Amtszeit gewählt haben. Sie dürften vor allem der Basis von Trump zuzurechnen sein: «Das sind seine enthusiastischen Anhänger, die rund 20 Millionen der Trump-Wähler ausmachen», so Neumann. «Unter diesen 20 Millionen gibt es noch einmal eine innere Gruppe, die ganz tief in der Verschwörungstheorie-Szene drin ist, die so genannten Q-Anhänger.» Diese seien beim Sturm auf das Capitol an vorderster Reihe gestanden – in der vollen Überzeugung, die Demokratie zu schützen und einen legitimen Aufstand gegen manipulierte Wahlen zu veranstalten.
Die Q-Anhänger haben sich der Ideologie der QAnon-Verschwörungssekte verschrieben. Demnach kämpft Donald Trump seit vier Jahren als US-Präsident gegen eine Verschwörung des so genannten Deep States an, dem hohe Beamte und Militärs oder Personen wie Hillary Clinton und Bill Gates angehören sollen (mehr dazu in der Box). «Gemäss den Q-Anhängern betreiben sie ein Netzwerk von Kinderschändern und haben dem Präsidenten die Wahlen gestohlen, weil er ihnen zu gefährlich wurde. So absurd es auch immer klingen mag – das ist die Theorie und daran glauben Zehntausende, wenn nicht sogar Hunderttausende von Trump-Anhängern», sagt Neumann.
Jetzt hat die Bewegung eine Märtyrerin
Eine dieser möglicherweise Hunderttausend Q-Anhänger war auch Ashli Babbitt (35) aus San Diego. Sie starb im Capitol, erschossen von einem Polizisten, als sie im Parlament durch ein zerbrochenes Fenster stieg. Ihr Social-Media-Feed war gefüllt mit Nachrichten, die Trump bejubelten, mit QAnon-Verschwörungstheorien und Tiraden gegen Migranten, Drogen und Demokraten. Jetzt wird sie wohl zur «Märtyrerin dieser Bewegung», wie Extremismusforscher Neumann sagt.
«Meine Schwester hat 14 Jahre im Militär gedient», sagt ihr Bruder der «New York Times». «Wenn du den grössten Teil deines Lebens deinem Land gegeben hast, aber dann deine Stimme nicht gehört wird, dann ist das eine bittere Pille». Sie sei eine normale Kalifornierin gewesen, die sich wegen der vielen Obdachlosen oder der Schwierigkeiten kleiner Geschäftsleute aufgeregt habe, «so wie die meisten von uns».
«So wichtig, dass sie dafür starb»
Aus ihrer Verehrung für den US-Präsidenten machte die hochverschuldete Babbitt keinen Hehl. Sie retweetete Posts, die einen gewaltsamen Aufstand versprachen, um Präsident Trump im Amt zu halten und postete am Tag ihres Todes aus Washington: «Nichts wird uns aufhalten. Sie können es versuchen und versuchen, aber der Sturm ist hier und wird über Washington ziehen.» Sie sei leidenschaftlich hinter Trumps Sache gestanden und sei davon überzeugt gewesen, dass sie sich für das amerikanische Volk erhebe, so Babbitts Bruder weiter. «Ich weiss, dass es ihr wichtig war. So wichtig, dass sie dafür starb».
Diese Aussagen decken sich auf fast unheimliche Weise mit der Beschreibung von Extremismusforscher Neumann: «Die Leute, die am Mittwoch das Capitol stürmten, vertreten und schützen in ihren Augen die Demokratie. Sie sind wirklich überzeugt, dass bei der Wahl betrogen wurde. Das ist das wirklich Schwierige und Gefährliche an dieser Bewegung.»
Gut zu wissen
Was ist QAnon?
Laut der QAnon-Verschwörungstheorie beherrscht eine satanistische Elite die Welt. Sie soll einen internationalen Pädophilenring betreiben, in dem Kinder ihren Eltern entrissen, eingesperrt und gefoltert würden. Der Grund sei ein Stoff namens «Adrenochrom», welche der Pädophilen-Ring aus dem Blut der gefangenen Kinder herstelle, um sich selbst zu verjüngen.
US-Präsident Donald Trump soll laut der Verschwörungstheorie gegen diesen Ring kämpfen. Er gilt bei den Anhängern der Theorie deshalb als Held. Beweise für die Behauptungen gibt es keine.
Die QAnon-Bewegung löste 2017 ein User namens «Q» aus, der im Internetportal «4chan» über bevorstehende Massenverhaftungen in den USA schrieb.