Islamexperte im Interview«Die Etablierung eines demokratischen Systems im Iran ist möglich»
Die Proteste im Iran dauern an, in Mahabad geht das Regime hart gegen Aktivisten vor. Laut Mahdi Rezaei-Tazik vom Institut für Islamwissenschaft an der Uni Bern könnte eine politische Revolution bevorstehen.
Darum gehts
Mahdi Rezaei-Tazik ist Politik- und Islamwissenschaftler an der Universität Bern.
Die Protestbewegung im Iran dauert schon über zwei Monate an – der Iran-Experte schätzt im Interview die Lage ein.
Für ihn ist ein säkular-demokratischer Iran möglich.
Die jetzige Kulturrevolution könne sich bald zu einer politischen Revolution entwickeln.
In Mahabad geht das Militär gewaltsam gegen Protestierende vor, einigen politischen Gefangenen droht die Todesstrafe – das scheint das iranische Volk nicht abzuschrecken?
Mahdi Rezaei-Tazik: Die Kurdinnen und Kurden im Iran verfügen über einen starken Kampfgeist. Zudem sind einige bewaffnete iranische Kurden im irakischen Kurdistan stationiert. Die Kurden im Iran sind dabei, die Strassen zu erobern. Das Regime zielt auf eine militärische Auseinandersetzung ab, um die Unterdrückung der Proteste einfacher zu legitimieren. Bisher haben sich die kurdisch-iranischen Parteien darauf nicht eingelassen. Der Wille, das Regime aufzulösen, ist grösser als die Angst. Das iranische Volk hat in den letzten 43 Jahren viele Versuche unternommen, den Gottesstaat zu demokratisieren – erfolglos. Die Struktur des politischen Systems lässt eine Demokratisierung nicht zu.
Die Proteste im Iran dauern bereits über zwei Monate an. Was hat sich seit Beginn der Demonstrationen verändert?
Es protestieren immer mehr Menschen, weil immer mehr sterben – darunter auch viele Kinder und Jugendliche. Zudem streiken nun auch die Arbeiter – das ist für die Bewegung von enormer Wichtigkeit. Jugendliche haben damit angefangen, den Mullahs auf offener Strasse die Turbane vom Kopf zu schlagen. Angehörige des Regimes können nun nicht mehr einfach auf die Strasse – das war vor zwei Monaten noch ganz anders. Eine Kulturrevolution wurde erreicht, diese könnte sich zu einer politischen Revolution weiterentwickeln.
Wieso werden Turbane vom Kopf geschlagen?
Der Turban und das Kopftuch sind Symbole des iranischen Regimes. Auch andere Symbole, wie die Büros der Freitagsprediger, religiöse Schulen und sogar das Geburtshaus des Revolutionsgründers Ruhollah Khomeini werden gezielt angegriffen und in Brand gesteckt. Die Protestierenden versuchen, das Herzstück des Regimes zu treffen. Für das Regime ist das sehr gefährlich – diese Symbole sind als Säulen des Systems zu verstehen.
Wie steht es um die Kontrolle des Regimes?
Es scheint, dass das Regime die Kontrolle langsam verliert. Wenn die Proteste so weitergehen, wird sich ein Teil der Armee oder der Revolutionsgarden vermutlich dem Volk anschliessen. Sie müssen sich bald entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Denn: Die hochrangigen Machthaber des Regimes haben Aufenthaltsbewilligungen in Westeuropa, in den USA und Kanada und können sich wahrscheinlich dort absetzen, sollte sich die Situation zuspitzen – die (regimetreuen) Soldaten können das nicht.
Sie stehen in Kontakt mit politischen Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen Ecken der Welt. Wie sieht deren Meinung aus?
Die Leute sind im Grunde genommen optimistisch. Die Proteste dauern an, das erhöht die Möglichkeit, dass eine demokratische Übergangsregierung im Ausland entsteht. Das iranische Volk braucht eine solche Übergangsregierung, die seine Stimme im Ausland wiedergibt.
Ist ein demokratischer Iran also denkbar?
Die Iranerinnen und Iraner wünschen sich ein politisches System, befreit von den Ideologien des 20. Jahrhunderts, die schon seit Jahrzehnten aus der Zeit gekommen sind. Die Etablierung eines demokratischen Systems im Iran ist möglich.
Wie nehmen Iranerinnen und Iraner die Schweiz wahr?
Sie werfen der Schweizer Regierung Doppelmoral vor: Die Schweiz unterstützt die Ukraine und bezieht sich dabei auf das Völkerrecht und universelle Werte – wenn es aber um den Iran geht, hebt sie ihre Neutralität hervor. Die Iranerinnen und Iraner sagen, das Verhalten der offiziellen Schweiz sei ausschlaggebend für die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen im zukünftigen demokratischen Iran.
Die Ständeratskommission will die EU-Sanktionen nicht mittragen, aber iranische Nichtregierungsorganisationen (NGO) finanziell unterstützen.
Reichen tut das nicht. Denkbar und hilfreich wäre etwa die konsequente Forderung nach der Freilassung von politischen Gefangenen.
Glaubst du, dass die Protestierenden das Regime stürzen können?
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