Generationenkonflikte: «Ohne Hilfe alter weisser Cis-Männer erreicht die Jugend ihre Ziele nicht»

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Generationenkonflikte«Ohne Hilfe alter weisser Cis-Männer erreicht die Jugend ihre Ziele nicht»

Rachele Focardi ist eine der führenden Forscherinnen im Bereich Generationenkonflikte. Im Interview spricht sie über die Definition sexueller Übergriffe, Gender-Themen und den Kampf der Generation Z für eine lebenswerte Erde.

Rachele Focardi gehört zu den führenden Forscherinnen im Bereich Generationenkonflikte. 
Zwischen den Ansprüchen der jüngeren Generation und denen der älteren Generation klaffen teils grosse Lücken. 
So ist die Klimakrise zwar für beide Generationen grundsätzlich ein Problem. 
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Rachele Focardi gehört zu den führenden Forscherinnen im Bereich Generationenkonflikte. 

privat 

Darum gehts

Welches sind die drängendsten Generationenkonflikte unserer Zeit?
Es prallen Welten aufeinander: Die Generation Z fürchtet um die Zukunft der Erde und will alles tun, um sie zu retten. Egal, wo auf der Welt ich junge Menschen befragt habe: Sie alle sagten, dass sie sich Sorgen machen, ob es für ihre Kinder und deren Kinder noch eine Welt geben wird. Die Jungen glauben aber, dass die Alten sie ausbremsen wollen. Doch das ist keinesfalls die Absicht der älteren Generationen. Sie wollen ihre langjährige Lebenserfahrung einbringen und die Jugend mit dem Rüstzeug ausstatten, um die anstehenden Probleme zu lösen. Sie sind aber der Meinung, dass die jüngere Generation ihnen nicht zuhört und ihre Erfahrungen nicht zu schätzen weiss.

Wie kann dieser Konflikt überwunden werden?
Wir müssen die Kräfte verstehen, die die Denk- und Verhaltensweisen der verschiedenen Generationen geprägt haben. Wir müssen miteinander reden und die Unterschiede anerkennen. Die Pandemie zwang die älteren Generationen, sich mit Technologien wie Zoom oder Whatsapp vertraut zu machen. Am Anfang wehrten sich viele dagegen. Als ich ein Jahr später wieder mit ihnen sprach, waren sie begeistert, diese Kommunikationsmittel und diese Verbindung zur jüngeren Generation entdeckt zu haben und von den Jungen zu lernen. Die Pandemie war trotz aller negativen Folgen hilfreich bei der Überbrückung der Kluft zwischen den Generationen.

«Die Generation Z weiss genau, dass sie jedes Unternehmen zu Fall bringen können, indem sie sich weigern, dessen Produkte zu kaufen.»

Inwiefern?
Es ist üblich, dass jede neue Generation in dem Glauben aufwächst, die Probleme und Fehler der vorangegangenen Generation beheben zu müssen. Covid-19 hat fast alle Menschen auf der Welt gezwungen, sich derselben Situation anzupassen. Das hat zu einem noch nie dagewesenen gemeinsamen Verständnis geführt. Wenn wir uns diese Stimmung zunutze machen können, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir einen Fortschritt erleben werden, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.

In Zürich gab es in den 1980er Jahren gewalttätige Jugendunruhen. Heute besetzt die Klimabewegung ein paar Stunden den Bundesplatz. Sind die Jugendbewegungen harmloser geworden?
Ich denke ja. Die Generation Z denkt und mobilisiert anders. Einerseits dank der sozialen Medien. Andererseits ist sich die jüngste Generation sehr bewusst, dass sie mit einer Anpassung des Kaufverhaltens mehr erreichen kann als mit Abstimmungen oder eingeschlagenen Schaufenstern. Als ethische Konsumenten weiss die GenZ ganz genau, dass sie jedes Unternehmen zu Fall bringen können, indem sie sich einfach weigern, dessen Produkte zu kaufen, wenn das Unternehmen nicht mit ihren Werten übereinstimmt oder dieselben Themen unterstützt.

Das klingt nach privilegierten Kindern aus der ersten Welt, die es sich leisten können. Für viele sieht die Realität doch anders aus?
Das mag zum Teil richtig sein. Aber es gibt konkrete Beispiele dafür, wie das funktioniert hat: Victoria's Secret musste sich völlig neu erfinden und ihre «90-60-90-Engel» durch ganz normale Frauen ersetzen. Das liegt daran, dass die Generation Z erkannt und beschlossen hat, dass diese «Vorstellung von Schönheit» der Gesellschaft schadet und viele junge Mädchen dazu zwingt, depressiv zu werden oder Essstörungen zu entwickeln, um ein unrealistisches Schönheitsideal zu erfüllen. Auch in den Entwicklungsländern habe ich ein starkes Bewusstsein dafür festgestellt, dass die Welt durch das eigene und kollektive Verhalten kontrolliert werden kann. Dabei hat die Vernetzung über soziale Medien sicherlich geholfen.

«Die Zeit der reichen, alten, weissen cis-Männer an der Macht ist vorbei. Doch ohne sie wird die Jugend ihre Ziele nicht erreichen.»

Ist die Zeit der reichen, alten, weissen, cis-Männer an der Macht vorbei?
Ich denke, das kann man sagen. Aber: Das Ziel sollte nicht sein, die ältere Generation zu vertreiben. Wir brauchen sie! Ohne ihre Hilfe wird die Jugend ihre Ziele nicht erreichen. Wir können nur erfolgreich sein, wenn wir voneinander lernen und gemeinsam an den grossen Zielen arbeiten.

In einer Strassenumfrage wurde mehrfach gesagt, dass sich das Verständnis dessen, was als sexuell übergriffig gilt, stark verändert hat.
Das ist so. Hier prallen derzeit zwei Extreme aufeinander: Früher war es akzeptabel und meist harmlos, zärtlich oder direkter zu sein. Aber es gibt auch unzählige Fälle, in denen dieses Verhalten in Belästigung umschlägt und normalisiert wird. Das ist nicht in Ordnung. Die jüngere Generation will das Recht auf ihren eigenen Körper zurückfordern. Dies führt zu einer starken Sensibilisierung. Grosse, wichtige Veränderungen gehen oft mit Extremen einher, bis sich wieder ein gesunder Mittelweg gefunden hat. Ähnlich verhält es sich mit der Geschlechterfrage: Wenn man früher als Junge oder Mädchen geboren wurde, erwartete man, dass man das sein ganzes Leben lang beibehielt, auch wenn es nicht zu einem passte. Heute erkennen wir zunehmend das Recht an, das Geschlecht zu wählen. Dies stösst bei der älteren Generation oft auf Unverständnis.

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