«Willkürliche Gewalt»Kolumbien-Experte erklärt, worum es den Demonstranten geht
Seit Tagen sind in Kolumbien heftige Proteste im Gange. Der Politikexperte Enzo Nussio äussert sich zur Lage und den Protesten.
Darum gehts
Kolumbiens Präsident hatte vergangene Woche eine neue Steuerreform angekündigt. Nach massiven Demonstrationen wurde diese wieder zurückgezogen.
Die Proteste gingen aber weiter – denn der Bevölkerung geht es um viel mehr: Die Menschen verlangen nach einem anständigen Staat, der sich um seine Bürger kümmert.
Enzo Nussio ist Senior Researcher am Zentrum für Sicherheitspolitik an der ETH Zürich und ordnet die Situation ein. Er lebte mehrere Jahre in Kolumbien.
Seit Tagen gehen in Kolumbien hunderttausende Menschen auf die Strasse und demonstrieren - worum geht es bei den Protesten?
Enzo Nussio: Mehrere Organisationen haben Ende April zu einem nationalen Streik aufgerufen. Ursprünglich ging es um die Steuerreform, das war aber nur der Auslöser: Die Menschen sind unzufrieden, weil sie in ihrem Land keinen Fortschritt sehen. Es ist nicht mehr nur Misstrauen, sondern Wut gegenüber dem Staat, der seine Versprechen nicht hält. Über die Jahrzehnte hat sich enorm viel Frustration angestaut. Denn immer wieder wurden Besserungen versprochen, gegen die Ungleichheit im Land, die Gewalt und Korruption. Immer wieder schöpften die Menschen Hoffnung auf Veränderung - trotzdem geschah nicht viel. Die Situation gleicht einem Dampfkochtopf, der nun explodiert ist.

Enzo Nussio ist Senior Researcher am Zentrum für Sicherheitspolitik an der ETH Zürich und lebte mehrere Jahre in Kolumbien.
PrivatWelchen Einfluss hat die Pandemie auf die Situation?
Um eine Krise meistern zu können, braucht die Regierung ein gewisses Grundvertrauen von der Bevölkerung - was in Kolumbien nicht vorhanden ist. Zudem ist sie weder ökonomisch noch sozial fähig, die Menschen im Land genügend zu unterstützen. Die Pandemie hat die Ungleichheit im Land vergrössert, die vorhandenen Probleme verschärft – dies führte zu weiterer Frustration im Land. Die Menschen gehen aber nicht wegen der Corona-Massnahmen auf die Strasse - es geht um etwas viel Grösseres, die Pandemie scheint daneben irrelevant: Sie wollen einen anständigen Staat, der sich um seine Bürger kümmert, ohne Korruption und Polizeigewalt, mit sozialer Unterstützung für Bedürftige und politischer Mitsprache – wie es in anderen Ländern normal ist. Und um dies einzufordern, opfern sie sogar ihre Gesundheit und ignorieren die Corona-Massnahmen.
Auf Social Media wird viel über Polizeigewalt diskutiert. Die Regierung schicke eigene Randalen in die Demos, um die Stimmung anzuheizen, und die Polizei schiesse willkürlich auf Menschen, heisst es unter anderem. Was ist an den Vorwürfen dran?Es sind unterdessen genügend Informationen vorhanden, die aufzeigen, dass dies stimmt. Die Polizei wendet willkürlich und unproportional Gewalt gegenüber den Demonstrierenden an – und dementsprechend reagiert die Bevölkerung. Das hat zu einer besorgniserregenden Eigendynamik geführt. Dabei wird vergessen, dass die Polizisten auch nur Menschen sind – sie werden nun ebenfalls zur Zielscheibe von gewaltbereiten Demonstrierenden.
Die Proteste halten seit über einer Woche an – ist eine Lösung in Sicht? Um die Demonstrationen und die Gewalt zu unterbrechen, braucht es den Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen. Doch das reicht nicht: Die Probleme des Landes sind nur mit langfristigen Reformen zu lösen. Es muss sich endlich etwas grundlegend verändern und die Regierung muss ihren Versprechungen nach Sicherheit, Transparenz und Bekämpfung der Ungleichheit nachkommen. Wenn dies nicht geschieht, wird es zukünftig wieder zu derartigen Protesten kommen.
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