Interview mit Ai Weiwei«Die Schweiz ist der scheinheiligste Staat der Welt!»
Der weltbekannte Künstler lebt derzeit in Portugal im Exil. Er legt sich mit Autoritäten an und seinen Finger darauf, wo es weh tut. Auch in unserem Interview.

Ai Weiwei (63) im Zoom-Interview mit 20 Minuten.
Screenshot ZoomHerr Ai, Sie warnen davor, dass China zur Bedrohung für «den weichen und immer nervöser werdenden» Westen wird.
Der Westen braucht Chinas Arbeitsmarkt - weil es in diesem autoritären System keinen Schutz der Menschenrechte, keinen Schutz der Arbeitsrechte oder ein unabhängiges Justizsystem gibt. Dass sich China diesbezüglich entwickelt, daran haben die USA und Europa kein Interesse, ihnen geht es um den Profit. Aber jetzt, wo in China ein erfolgreicher Staatskapitalismus herrscht, ist der Westen der Herausforderung nicht mehr gewachsen, weil ein autoritäres System effizienter ist, rücksichtsloser und strategischer vorgehen kann. Entsprechend wird der Westen immer nervöser und ängstlicher.
Wo liegt die Bedrohung?
Die Bedrohung, die von China ausgeht, ist eine wirtschaftliche. Der Westen bringt Geschäfte und Technologie nach China, das umgekehrt aber nie westliche Werte übernehmen wird. Das ist die Bedrohung. Allerdings ist auch der Westen nicht mehr länger der Westen, er wird von autoritären Konzernen kontrolliert, denen Werte egal sind. Denn das ist die Essenz des Kapitalismus: freie Wirtschaft, freier Wettbewerb. So gibt es gar keine Grenze mehr zwischen China und dem Westen. Das verstehen viele immer noch nicht, obwohl China es sehr deutlich sagt: Wir sind schon ein Teil von eurem System und ihr ein Teil von unserem - China zu boykottieren, ist damit gar nicht mehr möglich.
Was steht für den Westen auf dem Spiel?
Lassen Sie mich ein einfaches Beispiel geben. Chinesen schuften sieben Tage die Woche vielleicht 15 Stunden pro Tag. Sie wollen Geld machen und reich werden. Westler dagegen verlangen hohe Löhne und arbeiten weniger, haben viel Ferien und kümmern sich emotional kein bisschen um Gerechtigkeit, obwohl es so viele Ungerechtigkeiten gibt. Das ist eine Scheinheiligkeit, die deutlich macht: Der Westen ist genauso moralisch korrumpiert wie China, sogar noch schlimmer. Denn ihr lebt dermassen privilegiert und helft den Menschen nicht, die ihr letztlich aber braucht. Stattdessen bringt ihr Entschuldigungen vor, wieso ihr Profit macht mit autokratischen Staaten wie China, Saudi-Arabien, Russland. Ist das moralisch richtig? Oder ist es korrupt und eine Schande?

«Ich finde den Westen einfach wahnsinnig hypokritisch».
Screenshot ZoomWelche Strategie soll man denn einschlagen …
China hat für sich eine sehr gute Strategie entwickelt, der Westen dagegen hat gar keine, ausser faul, scheinheilig und anmassend zu sein. Deswegen macht China enorme Fortschritte und lässt den Westen hinter sich.
Sie sagen, der Westen sei faul und scheinheilig, aber hier können Sie frei ihre Kunst ausstellen und brauchen keine Angst vor staatlicher Repression zu haben.
Mir ist egal, wo ich meine Kunst ausstelle. Ihr braucht meine Ausstellungen eher, weil ihr es auch nicht besser könnt als ich.
Dennoch: In China könnten Sie ihre Kunst nicht frei ausstellen.
Das ist auch nicht nötig. Ich kann online ausstellen, dafür brauche ich kein Galerie. Ich kann meine Kunst überall machen, selbst im Gefängnis kann ich schreiben, richtig? Ich finde den Westen einfach wahnsinnig hypokritisch. Alle geben vor, liberal und kreativ zu sein, aber davon merke ich wirklich nicht viel. Was genau habt ihr denn kreiert?
Sind Sie dem Westen gegenüber kritischer geworden, seit Sie hier leben?
Nein, das war ich schon immer. Ich bin immer kritisch gegenüber Autoritäten und sehr kritisch gegenüber Ländern, wo Menschenrechte und Redefreiheit nicht eingehalten werden. Ich hasse Scheinheiligkeit - wobei China viel weniger fake ist als der Westen. Wir alle wissen, sie verüben Unrecht - doch im Westen gibt es auch viel Unrecht, nur gebt ihr es nicht zu. Ihr habt eure eigene Propaganda, geniesst eure Freiheit und Bildung und denkt, das steht euch zu, weil ihr privilegiert seid. Aber das seid ihr nicht. Ihr habt einfach Angst, über die echten Streitpunkte zu reden.
China ist dabei, die mächtigste aller Wirtschaftsmächte zu werden. Wie wird das die Welt verändern?
China wird weltweit alles aufkaufen. In der Schweiz etwa werden alle Banken und Finanzdienstleister für China arbeiten. Wird sich das auf das Land auswirken? Ich denke schon. Man sieht China ja nicht nur Afrika aufkaufen, es ist auch dabei, sich Konzerne in ganz Europa unter den Nagel zu reissen. Dabei korrumpiert nicht China diese Konzerne, sondern umgekehrt: Sie korrumpieren China.
Wie denn das?
Banken und Versicherungen und all die anderen Megakonzerne stellen etwa die Kinder der reichen chinesischen Funktionäre ein, so dass sie einen Vorteil auf dem chinesischen Markt haben. Kümmert sie China? Nein. Sie lieben allein den Markt. Es gibt darüber keine Kontrolle mehr. Es gibt also keinen Osten und Westen mehr - es gibt nur noch die Reichen und Mächtigen und den Rest von uns.

Die China-Strategie der Schweiz? «Lachhaft!», sagt Ai.
Screenshot ZoomDie Schweiz hat erstmals seit 70 Jahren eine China-Strategie entwickelt. Dabei soll den Menschenrechten Rechnung getragen werden, aber auch dem Umstand, dass China der drittgrösste Handelspartner der Schweiz ist.
Schon der erste Punkt ist ein Fake. China weiss, der Westen redet von Menschenrechten, nur um gut dazustehen. Die Geschäfte kommen trotzdem zustande. So wird China bald nicht nur der drittstärkste Handelspartner der Schweiz sein, sondern die Nummer eins.
Das Ziel ist, China in eine liberale, globale …
Hahaha! Das ist ja lachhaft. Die Welt kann sich ein reiches, demokratisches China gar nicht leisten - China soll bleiben, wie es ist, denn nur so kann der Westen daraus am besten Profit schlagen.
Die Schweiz stellt sich mit Blick auf die Menschenrechte auf den Standpunkt: «Besser ein schwieriger Dialog als gar keiner.» Stimmen Sie zu?
Nein, kein bisschen. Die Schweiz hat ihre eigene Agenda. Heisst: Man einigt sich darauf, sich bei den Menschenrechten nicht einig zu sein, und geschäftet dann fröhlich weiter. Es ist ja nichts Falsches daran, Geschäfte zu machen, es ist auch nichts Falsches dabei, dass China die grösste Wirtschaftsmacht der Welt wird. Derzeit wiederholt euer Aussenminister doch nur den gleichen Müll, wie es schon die Administration unter Barack Obama tat. Alles, was sie wollen, sind Geschäfte und das geht ohne China als Partner gar nicht mehr. China hat das längst verstanden.
Die Schweiz ist also naiv?
Nein, nicht naiv. Sie ist zutiefst scheinheilig.
Vielen wären die USA als Nummer eins Weltmacht dennoch geheurer als China.
Wieso?
Weil wir eher gemeinsame Werte teilen.
Gemeinsame Werte, was heisst das denn schon? Ihr wart alle auf derselben Party und diese Party ist vorbei. Ohnehin: Es gibt keine gemeinsamen Werte, das ist eine Illusion. Ich kritisiere China mehr als jeder andere auf der Welt, aber wenn wir China kritisieren, dann müssen wir auch sehen, dass der Westen China in etwas verwandeln will, wovon er in erster Linie profitiert. Und wir müssen auch verstehen, womit China zu kämpfen hat.

«China hat verstanden, dass der Westen die Menschenrechtslage als billige Entschuldigung zum Feilschen braucht.»
Screenshot ZoomWomit hat China zu kämpfen?
Chinas wahres Problem ist sein autoritärer Staat. Dieser gibt dem Individuum keine oder nur wenig Freiheiten. Denn das System und die Kontrolle darüber sollen aufrechterhalten werden. Allerdings ist Kontrolle nicht nur schlecht, denn so ist China in den letzten zehn, zwanzig Jahren sehr stark geworden. Dennoch wird sich das kommunistische Regime langfristig nicht halten können. Es hat keine Zukunft, da das Regime seine Macht nicht legitimieren kann.
Reden wir von den Uiguren. Der Westen kritisiert die Lager in China, kauft aber dennoch Produkte aus Zwangsarbeit ein. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?
Ich will China nicht verteidigen. Aber es hatte immer Arbeitslager, ich wuchs selbst in solchen Lagern auf. Es ist kein neues Phänomen und betrifft auch nicht nur die Uiguren, sondern auch Tibeter und andere ethnische Minderheiten. Hier werden für den Weltmarkt etwa 20 Prozent der Baumwolle produziert - und alles davon wird in den Westen exportiert. Der Westen benennt Probleme nur selektiv. Wir müssen realistisch sein.
Wir kommen aus der Zwickmühle also nicht mehr heraus?
Nein. Denn China hat verstanden, dass der Westen die Menschenrechtslage als billige Entschuldigung zum Feilschen braucht. Dem Westen sind doch die Lager und Arbeitsbedingungen egal, ob in China oder in Indien. Peking hat diese selektive Doppelmoral des Westens, die auf politische und wirtschaftliche Vorteile abzielt, längst durchschaut und nimmt es nicht hin.

«Verbietet die Schweiz Menschen nicht, einen Schleier zu tragen und Minarette zu bauen? Und das soll Demokratie sein?»
Screenshot ZoomKann es sein, dass Sie ein schlechteres Bild vom Westen zeichnen als von China?
Das mag Ihr Eindruck sein, aber ich zeichne China nie in einem guten Licht. Ich sehe China als das, was es ist. Niemand kritisiert China mehr als ich. Aber ich muss ehrlich sein. Der Westen muss vom hohen Ross runterkommen und aufhören, so zu tun, als ob er stets das Richtige getan hat oder tut. Schauen Sie sich doch einmal die Flüchtlings- und Migrationspolitik Europas an. Wo bleiben da die vielbeschworenen Menschenrechte? Und verbietet die Schweiz Menschen nicht, einen Schleier zu tragen und Minarette zu bauen? Und das soll Demokratie sein?
Es war die Mehrheit der Stimmenden, so läuft es in einer Demokratie…
Ha! Das ist ein perfektes Beispiel dafür, wie eine Demokratie zum Verbrechen wird. Hier wird gegen den Glauben und das Benehmen von Menschen vorgegangen. Menschen sollen doch tragen können, was sie wollen, wieso muss die Regierung hier Vorgaben machen! Die Schweiz gebraucht die Demokratie als Vorwand, um ein Gesetz zu schaffen, das weder rechtmässig noch gerecht ist.
Dennoch hat die Mehrheit von acht Millionen Menschen sich dafür ausgesprochen.
Das kritisiere ich ja. Sind die denn alle dumm?
Offenbar fühlten sich viele unwohl oder bedroht ...
Und wenn man sich bedroht fühlt, kann eine Demokratie autokratische Züge annehmen? Dann soll man aber auch China nichts vorwerfen. Ihr seid durch und durch scheinheilig!
Es ging auch um gesellschaftliche Werte…
Das ist doch ein Witz. Wenn ich in der liberalen Schweiz mit all ihren sogenannten Menschenrechten nicht tragen kann, was ich will, sollte niemand auch nur einen Fuss in dieses Land setzen. Die Schweiz sollte sich schämen. Das ist genauso beschämend, wie es Konzentrationslager sind. Als Deutschland Juden in die KZ steckte, hat die Mehrheit der Deutschen das auch unterstützt - genau wie heute in der Schweiz.
Sie vergleichen die heutige Schweiz mit Nazideutschland - ist das Ihr Ernst?
Das kann ich sehr wohl vergleichen. Die menschliche Natur verändert sich nicht. Unter bestimmten Umständen sagen eure Politikerinnen und Politiker gerne: Das ist der Wille des Volkes. Aber sie benutzen dies als Vorwand, um alle Arten von Verbrechen zu verdecken. Ich sage Ihnen: Die Schweiz ist der scheinheiligste Staat der Welt! Sie gibt sich demokratisch, ist so stolz auf ihre sogenannte Kompromissfähigkeit und Neutralität - und gleichzeitig versteckt sie Verbrechen und profitiert auch noch von den Verbrechen anderer.
Sie werden also nicht mehr in die Schweiz kommen?
Ich muss es mir überlegen. Ich habe viele gute Freunde in der Schweiz und es gibt vieles, das ich an der Schweiz liebe, aber ich mag auch viele Dinge nicht. Angefangen mit der schweizerischen scheinheiligen Politik. Die Abstimmung über die Burka - mit Diskriminierung dieser Art will ich nichts zu tun haben.
Ai Weiwei (63) ist ein chinesischer Konzeptkünstler, Bildhauer und Kurator. Wegen seiner regierungskritischen Äusserungen wurde er 2011 in China inhaftiert, bis 2015 durfte das Land nicht verlassen. Seither lebt er im Exil, derzeit in Portugal. In Lissabon ist derzeit seine bislang grösste Ausstellung, “Rapture” (Verzückung) zu sehen.
Das Interview mit ihm entstand im Rahmen der «Lucerne Summer University: Ethics in a Global Context» (LSUE) 2021 am Institut für Sozialethik der Universität Luzern. Zur Eröffnung der LSUE traf sich Ai Weiwei mit Studierenden aus aller Welt zu einem Gespräch.