Radikalisierung im InternetCorona-Pandemie befeuert Hatespeech in den sozialen Medien
Hass auf Lesben, Juden, Linke, Rechte: Der Hass in den Sozialen Medien hat in der Pandemie massiv zugenommen.
Darum gehts
In den sozialen Medien ist der Hass im Corona-Jahr 2020 explodiert.
Facebook löschte 2020 fast 3,5 Mal mehr Kommentare als im Jahr zuvor.
Für Experten ist klar: Der fehlende soziale Austausch und kaum stattfindende Gegenrede fördern Hate Speech.
«Alain Berset mit deinen sieben Zwergen, jetzt ist die Zeit der schönen Worte vorbei. (...) Wir haben von deinem Terrorregime genug.» Das ist der harmlose Teil der Nachricht, die ein Mann kürzlich von der Skipiste aus über Twitter an den Gesundheitsminister richtete. Der Rest: Hate Speech, Drohungen, Beleidigungen. Hass im Internet hat während der Corona-Pandemie zugenommen.
Das stellte das Befragungsinstitut Sotomo bereits im ersten Lockdown fest. Sätzen wie «Yöööh. Die SP schreibt vor wie man zu denken hat. Erinnert irgendwie an Göbbels.» oder «Alles, was du siehst wurden von Männern geschaffen. Wären Frauen an der Macht, wäre die Menschheit schon längst vergiftet!» sei man bei der Untersuchung immer wieder begegnet. Auch der jüngste Antisemitismus-Bericht hält fest: 45 Prozent der antisemitischen Vorfälle wurden 2020 durch die Pandemie getriggert.
Linke wie Rechte vergreifen sich im Ton
«Die Menschen haben weniger soziale Kontakte, ihr Mitteilungsbedürfnis steigt. Für die zunehmende Frustration über die Corona-Massnahmen fehlt oft ein Ventil im täglichen Austausch, auch mit Andersdenkenden. Deshalb entlädt sich das dann in Kommentarspalten und sozialen Medien», sagt Bruno Wüest von Sotomo. Fehlende Gegenrede in echten Diskussionen ist auch für den Zürcher Psychologen Thomas Steiner einer der Gründe für zunehmenden Hass im Netz (siehe unten).
Politisch motivierte Hate Speech kommt während der Krise gemäss Wüest auf beiden Seiten vor: «Gerade bei den Impfungen sind die härtesten Gegner oft eher im linken Milieu zu finden. Massnahmen-Kritiker, die sich im Ton vergreifen, kommen hingegen eher vom rechten äusseren Rand.» Eine Zunahme sei in beiden Lagern zu beobachten: «Aufgrund der Kontaktbeschränkungen verlagerten sich die Debatten ins Internet. Es gibt mehr Beiträge, mehr Kommentare – und folglich auch mehr Hate Speech», sagt Wüest.
Psychologe Thomas Steiner
«Viele wollten erst gar nicht zu Hassrede greifen»
Wieso verhalten sich Menschen online anders als im echten Leben?
Die Hemmschwelle, einen Hasskommentar von sich zu geben, ist deutlich höher, wenn man jemandem direkt gegenübersteht. Im Internet einen hasserfüllten Kommentar abzuschicken, ist weniger anspruchsvoll.
Wieso werden in der Krise selbst Menschen, die sich das vorher nie getraut hätten, zu Hasskommentatoren?
Die Frustration über die Folgen dieser Pandemie sind nach einem Jahr so gross wie nie. Viele wollten gar nicht zu Hassrede greifen, sondern einfach wahrgenommen werden, eine Reaktion auf ihren Unmut erhalten. Wenn ein Algorithmus einem dann vor allem die Meinungen zeigt, die den eigenen Unmut verstärken, kann sich das aufschaukeln.
Wird das auch nach der Pandemie Spuren hinterlassen?
Das Phänomen von Hate Speech gab es ja schon vorher. Diejenigen, die jetzt einfach unter dem Druck der Isolation zu solchen Mitteln greifen, werden vermutlich problemlos wieder ins echte Leben zurückkehren können. Aber es besteht durchaus eine Gefahr: Sollten wieder einmal Zeiten sozialer Isolation folgen, ist für diese Personen die Tür zur Verbreitung von Hass im Internet schon aufgestossen.
Hast du oder hat jemand, den du kennst, Mühe mit der Coronazeit?
Hier findest du Hilfe:
BAG-Infoline Coronavirus, Tel. 058 463 00 00
BAG-Infoline Covid-19-Impfung, Tel. 058 377 88 92
Dureschnufe.ch, Plattform für psychische Gesundheit rund um Corona
Branchenhilfe.ch, Ratgeber für betroffene Wirtschaftszweige
Hotline bei Angststörungen und Panik, Tel. 0848 801 109
Pro Juventute, Tel. 147
Dargebotene Hand, Tel. 143
«Im Internet beschleunigt sich die Extremisierung»
Auch Sophie Achermann, Co-Projektleiterin des Projekts «Stop Hate Speech» sagt: «In der Krise hat online eine Extremisierung stattgefunden. Insbesondere das Aufkommen antisemitischer Verschwörungstheorien hat zu mehr Hass im Netz geführt.» Im Internet verkehrten die Menschen schnell in einer Bubble, gegensätzliche Meinungen spüle der Algorithmus seltener in die Timeline als das, was der Schreiber eh schon glaube.
«Normalerweise tauschen wir uns etwa mit Vereinskollegen aus, diskutieren unterschiedliche Meinungen auf der Arbeit oder kommen am Elternabend der Kinder mit neuen Ansichten in Kontakt», sagt Achermann. All das fehle derzeit. «Deshalb beschleunigt sich die Extremisierung, Menschen rutschen teils in kürzester Zeit von der echten in eine extremistische Realität ab», sagt Achermann.
Queere Menschen werden online angefeindet
Queere Menschen sind ebenfalls oft das Ziel von Hate Speech. «Das hat sich in der Krise leider nicht verändert», sagt Anna Rosenwasser von der Lesbenorganisation Los. Auch sie stellt aber eine Verschiebung fest: «Da derzeit alle viel weniger unterwegs sind, sind queere Menschen nicht mehr so sichtbar und werden logischerweise auch weniger angefeindet.» Dass Hate Speech trotzdem nach wie vor ein grosses Problem sei, zeige etwa die homophobe Attacke auf queere Teenager vor einiger Zeit beim Bahnhof Stadelhofen. «Was da an Kommentaren zusammengekommen ist, etwa auf Tiktok, ist äusserst bedenklich», sagt Rosenwasser.
Sie sieht die Plattformen stärker in der Pflicht: «Indem viele Hate Speech nach wie vor nicht konsequent aus ihren Kommentarspalten entfernen, tragen sie aktiv dazu bei. Wir fordern deshalb bessere Kontrollmechanismen.»
Facebook setzt auf bessere Technologie
Auch bei Facebook zeigt sich ein starker Anstieg von Hate Speech im Krisenjahr. Das Unternehmen hat alleine im letzten Quartal 2020 öfter aufgrund von Hate Speech interveniert als im ganzen Jahr 2019 (siehe unten). Ob diese Zunahme auf die Corona-Pandemie zurückzuführen sei, lasse sich aber nicht eindeutig sagen. «Das wäre Spekulation», sagt ein Mediensprecher.
Klar sei: «Die von uns verwendete Technologie, um Hate Speech frühzeitig zu erkennen, wird von Jahr zu Jahr besser.» Stand heute erkenne der Facebook-Algorithmus 97,3 Prozent aller Hasskommentare, noch bevor diese gemeldet wurden – noch vor drei Jahren waren es lediglich 24 Prozent.
Facebook sperrte 81 Millionen Hasskommentare
Weltweit hat Facebook im Krisenjahr 2020 81 Millionen Hasskommentare gesperrt. 2019 waren es noch lediglich 23,7 Millionen gewesen. Ein deutlicher Anstieg war ab April bemerkbar. Das deckt sich für die Schweiz mit den Erkenntnissen der Sotomo-Befragung, welche im ersten Lockdown im März/April erst noch eine Solidaritätswelle ausmachte, bevor Hassnachrichten sich zu häufen begannen. Seit Jahren erhöht sich bei Facebook der Anteil an Hasskommentaren, die automatisch erkannt werden, bevor sie jemand meldet.