«Die Zustände in den Spitälern sind desolat»

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Berichte von Schweiz-Serben«Die Zustände in den Spitälern sind desolat»

In der serbischen Stadt Novi Pazar breitet sich das Coronavirus rasant aus. Das Spital sei masslos überfordert, berichten Leser-Reporter. Laut dem serbischen Botschafter ist die Lage angespannt, aber unter Kontrolle.

In den sozialen Medien kursieren Fotos und Videos von Patienten, die angeblich in den Gängen oder sogar auf dem Boden des Spitals von Novi Pazar liegen müssen.
Auch machen Fotos von Anschlagbrettern voller Todesanzeigen von Corona-Patienten die Runde.
«Es herrscht Chaos. Die Infektionszahlen steigen täglich und die Zustände in den Spitälern sind desolat», sagt der Solothurner Leser-Reporter B. B.*, der Verwandte in Novi Pazar hat.
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In den sozialen Medien kursieren Fotos und Videos von Patienten, die angeblich in den Gängen oder sogar auf dem Boden des Spitals von Novi Pazar liegen müssen.

LESER-REPORTER

Darum gehts

  • In Serbien steigen die Corona-Fallzahlen stark an. In der Stadt Novi Pazar soll die Situation aus dem Ruder laufen.
  • Leser-Reporter berichten von überfordertem Spitalpersonal.
  • Laut dem serbischen Botschafter in der Schweiz, Goran Bradić, ist die Situation «angespannt, aber unter Kontrolle».

Das Coronavirus ist in Serbien wieder auf dem Vormarsch. Seit einigen Tagen liegen die Ansteckungszahlen im dreistelligen Bereich. Am Dienstag vermeldete die Regierung 276 neue Fälle. Die Nachrichten-Website «Balkan Insight» wirft den Behörden jedoch frisierte Zahlen vor. Bereits zwischen dem 17. und dem 20. Juni sollen sich in Serbien täglich mindestens 300 Personen mit Covid-19 infiziert haben. Die Website stützt sich dabei auf eine Analyse von Daten des staatlichen Covid-19-Informationssystems. Zudem unterstellt «Balkan Insight» der Regierung, dass zwischen dem 19. März und dem 1. Juni 632 Menschen starben – mehr als doppelt so viele wie offiziell angegeben.

Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) führte kürzlich diverse Neuansteckungen in der Schweiz auf Reisende aus Serbien zurück. Wie mehrere Leser-Reporter berichten, soll die Situation vor Ort aus dem Ruder laufen. Vor allem erwähnen sie die Stadt Novi Pazar, die sich im Südwesten Serbiens befindet, als neuen Corona-Hotspot. In den sozialen Medien kursieren Fotos und Videos von Patienten, die offenbar in den Gängen des Spitals oder sogar auf dem Boden liegen müssen. Auch machen Fotos von Anschlagbrettern voller Todesanzeigen von Corona-Patienten die Runde. Die Authentizität dieser Bilder ist nicht bestätigt.

«Ärzte erinnerten sich nicht mehr an Tod»

«Es herrscht Chaos. Die Infektionszahlen steigen täglich, und die Zustände in den Spitälern sind desolat», sagt der Solothurner Leser-Reporter B. B .*, der Verwandte in Novi Pazar hat. Seine Grosstante und sein Onkel seien an Corona erkrankt und letzte Woche gestorben, so B. B . (24). «Die Ärzte meldeten uns ihren Tod erst Stunden später mit der Begründung, sie hätten nichts mehr tun können, weil sie so viele Patienten und Tote hätten.» Auch der Fall eines Bekannten zeige, dass die Spitäler am Anschlag seien. «Zuerst konnte er seinen toten Vater gar nicht mehr sehen, weil sich die Ärzte nicht mehr an seinen Tod erinnerten. Sie sagten: ‹Ihr Vater ist doch gar nicht gestorben?›»

Auch Leser-Reporterin M. V.* (33) aus Meilen ZH leidet mit den Menschen in Novi Pazar mit. «Die Situation in Novi Pazar ist schlimm. Jeden Tag sterben etwa 12 Menschen an Corona, wie ich von meiner Schwester und Bekannten erfahren habe», sagt sie. Die Stadt gelte in Serbien mittlerweile als Virusherd. «Das Spital in Belgrad schickte die Mutter eines Freundes weg, weil sie dort keine Patienten aus Novi Pazar behandeln wollen.»

Erkranktes Personal

Doch das Spital in Novi Pazar ist laut M. V. masslos überfordert. «20 Ärzte und 40 Pflegende sind selbst an Corona erkrankt und fallen aus.» Der Direktor des Allgemeinen Krankenhauses in Novi Pazar bestätigte gegenüber dem Magazin Kosmo.at, dass 20 Ärzte und fast 40 Pflegefachpersonen infiziert seien.

Ihr Schwiegervater erhole sich zurzeit im Spital vom Coronavirus, sagt M. V. «Da nicht genügend Personal vorhanden ist, pflegt ihn seine Frau.» Ursprünglich wollte M. V. mit ihrer Familie die Sommerferien bei ihrer Schwester in der Stadt verbringen. «Wir fliegen jetzt natürlich nicht dorthin. Unser Flug nach Belgrad wurde am Montag ohnehin storniert.»

Beunruhigende Nachrichten erhält auch A.C.* (22) aus dem deutschen Bochum von ihren Cousinen, die in Novi Pazar als Pflegefachfrauen arbeiten. «Sie haben nur wenige Mittel, um sich selber vor dem Coronavirus zu schützen», sagt sie. Es fehle an Masken und Desinfektionsmittel. «Einige Krankenschwestern betreten das Zimmer von Patienten deshalb teilweise nicht mehr.» Ein Bekannter ihrer Familie sei im Krankenwagen auf dem Weg ins Spital verstorben. «Der Sohn rief die Sanitäter ständig an und bekam von ihnen zu hören, es sei alles gut, er schlafe. Dabei war er schon tot – sie hatten seine Sauerstoffflasche nicht nachgefüllt.» A.C. und die anderen Leser-Reporter appellieren an die Leute, wenn möglich nicht nach Serbien zu reisen.

Die Lage sei angespannt, aber unter Kontrolle

Laut Goran Bradić, serbischem Botschafter in der Schweiz, ist die Lage unter anderem in Novi Pazar, Kragujevac, Užice und Vranje «angespannt, aber unter Kontrolle». Er verwies am Dienstag darauf, dass sich die serbische Premierministerin Ana Brnabić mit dem Gesundheitsminister Zlatibor Lončar in der Stadt gerade ein Bild vor Ort mache. Brnabić habe soeben bestätigt, dass am Dienstag zusätzliches Schutzmaterial für das Spitalpersonal eingetroffen sei, sagt Bradić. Auch sei das Allgemeine Krankenhaus in Novi Pazar, gemessen an der Einwohnerzahl, sicherlich eines der am besten ausgestatteten Spitäler in dieser Region Serbiens, zitiert er die Premierministerin.

Laut dem Botschafter stellte die Premierministerin anlässlich ihres Besuchs klar, dass viele Corona-Patienten zu spät zum Arzt gegangen seien. «Da bei Patienten dadurch mehr Komplikationen entstanden, waren die Kapazitäten im Spital auch schneller begrenzt», sagt Bradić. Um die Patientenflut bewältigen zu können, hätten die Behörden in den letzten Tagen zusätzliches Personal nach Novi Pazar geschickt. Dass Patienten aufgrund ihrer Herkunft etwa in Spitälern in Belgrad abgewiesen würden, treffe nicht zu. «In einigen Krankenhäusern werden nur Covid-Patienten behandelt. Es ist daher möglich, dass andere Patienten einem anderen Spital zugewiesen werden. Das bedeutet aber nicht, dass man sie wegschickt.»

Serbien habe die Krise gut im Griff

Laut Bradić hat Serbien die Corona-Krise gut im Griff. «In Serbien gab es am Montag vier Todesfälle. Dass täglich mehrere Menschen an Corona sterben, sind Fake News.» Tatsächlich würden die Ansteckungszahlen in Serbien steigen. Diese begründet er mit den Lockerungen. Etwa seien Menschen aus dem Ausland eingereist, um ihre Ferien in Serbien zu verbringen. «Auch kam es zu Menschenansammlungen, weil Sportevents und Hochzeiten wieder stattfinden können und auch Gebetshäuser und Cafés wieder geöffnet sind.» Serbien werde bei fortlaufend steigenden Zahlen jedoch demnächst weitere Massnahmen ergreifen, wenn notwendig. «Etwa werden wir mehr lokale Ausgangssperren verhängen.» Auch verweist er auf die bereits eingeführte Maskentragpflicht im Öffentlichen Verkehr und in geschlossenen Räumen in Belgrad.

Den Vorwurf der frisierten Zahlen Serbiens lässt er nicht gelten. «Ich bin ein Staatsbeamter und habe volles Vertrauen in die Regierung und glaube, dass die Zahlen in Ordnung sind.» Seines Wissens seien die Kriterien der Experten in Serbien bezüglich Ansteckungs- oder Sterbegrund von den anderen Fachleuten oder Kollegen im Ausland nie in Frage gestellt worden.

* Name der Redaktion bekannt.

Lockerungen für Wahlen?

Die serbischen Parlamentswahlen wurden aufgrund der Corona-Krise vom 26. April auf den 21. Juni verschoben. Kurz davor hatte das Land zahlreiche Einschränkungen gelockert. Kritisiert wird, dass die Regierung überstürzte Lockerungen beschlossen habe, damit die Wahlen stattfinden konnten.

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