«Eine Welle nach der anderen»: Dramatischer Kampf tobt um Pokrowsk

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Donbass«Eine Welle nach der anderen»: Dramatischer Kampf tobt um Pokrowsk

Offizier Sergej von der ukrainischen 59. motorisierten Infanterie-Brigade ist im Abwehrkampf um die umkämpfte Schlüsselstadt Pokrowsk involviert. Wir haben mit ihm über die schwierige Lage gesprochen.

Russische Truppen sind nur noch wenige Kilometer von Pokrowsk entfernt.
Offizier Sergej von der ukrainischen 59. motorisierten Infanterie-Brigade erläutert die schwierige Lage.
Russland habe eine Menge Infanteristen. «Es ist eine Welle nach der anderen.» (im Bild: Ukrainische Soldaten der 59. Brigade).
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Russische Truppen sind nur noch wenige Kilometer von Pokrowsk entfernt.

59. Brigade

Darum gehts

  • Pokrowsk ist eine wichtige Stadt für die ukrainische Logistik im Donbass.

  • Sie ist zunehmend durch russische Truppen bedroht, die nur noch wenige Kilometer entfernt sind.

  • Trotz einer offensiven Phase der russischen Armee mit vielen Infanteristen zeigen sich die ukrainischen Verteidiger vorsichtig optimistisch, der russische Angriff könne aufgrund fehlender Reserven ins Stocken geraten.

  • Experten vermuten sogar, dass die russische Sommeroffensive ihren Höhepunkt erreicht haben könnte.

  • So steht noch nicht fest, ob es den russischen Truppen wirklich gelingt, Pokrowsk vollständig einzunehmen.

Die Einwohner nennen ihre Stadt wegen ihrer vielen Restaurants und Freizeitangebote gerne auch das «Las Vegas vom Donbass». In Kriegszeiten ist Pokrowsk aber vor allem ein wichtiger Versorgungsstützpunkt für die ukrainischen Streitkräfte.

In den letzten zweieinhalb Jahren war die Stadt im Oblast Donezk mit den einst gut 60'000 Einwohnern lange vom Krieg verschont geblieben, obgleich es punktuell russische Angriffe gab, gerade auf Hotels und Restaurants, in denen sich Soldaten und Journalisten aufhielten. Auch 20 Minuten war immer wieder dort.

«Bitte nicht kommen, es ist zu gefährlich»

Doch nun hat sich die Lage komplett verändert: Russische Truppen nähern sich Pokrowsk, sie sind nur noch wenige Kilometer entfernt. Jetzt können russische Artillerie und FPV-Drohnen Pokrowsk erreichen und die Angst vor einem Verlust dieses wichtigen logistischen Drehkreuzes wächst. Vor einigen Wochen wurden die Bewohner zur Evakuierung aufgefordert, Familien mit Kindern müssen dies zwangsweise tun.

Ziel der russischen Truppen ist es, auf der Achse Vuhledar – Kurakhove – Pokrowsk vorzurücken, um einen Brückenkopf zu schaffen, der allenfalls für die Bewegung in Richtung der Stadt Dnipro genutzt werden kann. Noch vor zwei Wochen stiess man mit solch grosser Kraft vor, dass viele in der Ukraine Pokrowsk schon verloren glaubten.

Doch mittlerweile ist das Offensivpotenzial in diese Richtung deutlich zurückgegangen, wie Offizier Sergej von der 59. motorisierten Infanterie-Brigade im Gespräch erklärt.

Eigentlich wollten wir ihn und seine 59. motorisierte Infanterie-Brigade an einer hinteren Frontlinie besuchen, alles war bereits aufgegleist. Doch dann meldete sich Sergej: «Bitte nicht kommen, es ist zu gefährlich.»

«Noch nie so viele Infanteristen gesehen»

Die Russen würden alles in den Angriff werfen, das sie zur Verfügung hätten, sagt der 56-Jährige am Telefon. «Sie setzen jetzt alle ihre Reserven ein und sind in der Offensive. Eine sehr aktive Offensive.»

Soldaten der 59. Brigade (im Bild) liefern sich einen erbitterten Kampf mit den Russen um Pokrowsk.
Oberst Markus Reisner spricht aktuell von einer «operativen» Pause der Russen. Doch die ...
.... kommenden Tage werden entscheidend sein im Kampf um Pokrowsk.
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Soldaten der 59. Brigade (im Bild) liefern sich einen erbitterten Kampf mit den Russen um Pokrowsk.

59. Brigade

Vor zwei Wochen sei es den Ukrainern zwar gelungen, den Vormarsch zu verlangsamen – auch dank der Ablenkungsoffensive auf russischem Gebiet. Doch: «Das Problem ist, dass sie eine Menge Infanterie haben. Ich habe noch nie so viele Infanteristen gesehen, die während der Invasion in der Region Donezk gleichzeitig angreifen», sagt Sergei. «Es ist eine Welle nach der anderen.»

Reisner: «Operative Pause» der Russen ist offensichtlich

Da Russland alles in diesen Angriff stecke, fehle es aber an russischen Reservisten, so Sergei. Ihm zufolge setze Moskau zu Hause wohl auf «irgendeine Art von verdeckter Mobilisierung»: «Sie geben bereits enorme Geldbeträge für ihre Rekruten aus, Beträge bis zu 2,5 Millionen Rubel (etwa 23'000 Franken, Anm. der Red.), nur um einen Vertrag mit den Streitkräften zu unterzeichnen. Aber das wird die Qualität der Truppen nicht erhöhen, es wird sie nicht verbessern.» Entsprechend ist Sergej verhalten optimistisch, dass den russischen Truppen beim Vorstoss gegen Pokrowsk trotz vereinzelter Erfolgsmeldungen der Schnauf ausgehen wird.

Sergej ist Offizier der ukrainischen 59. motorisierten Infanterie-Brigade.

Sergej ist Offizier der ukrainischen 59. motorisierten Infanterie-Brigade.

59. Brigade

Dem schliesst sich Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer auf Nachfrage an. Er spricht gar von einer offensichtlichen «operativen» Pause der Russen. Der Vorstoss Richtung Pokrowsk habe merklich nachgelassen – allerdings seien an den Flanken die Gefechte unverändert hart: «Die ukrainischen Frontsoldaten melden von den Schwergewichtsräumen eine Überlegenheit des Feindes im Verhältnis eins zu zehn», so Reisner – dort, wo auch Sergejs Einheit sich der russischen Überlegenheit gegenüber sieht.

Höhepunkt der russischen Sommeroffensive?

«In einigen Gebieten könnte es so weit kommen, dass ukrainische Kräfte eingekesselt werden, zum Beispiel bei Niu-York und westlich von Pervomaiske.» Mit Blick auf die fehlenden russischen Reservisten fügt er an: «Möglicherweise hat die russische Sommeroffensive ihren Höhepunkt aber bereits erreicht und schafft es nicht mehr, Pokrowsk einzunehmen.»

Immerhin komme es auch im Raum Charkiw fast zu einem Erliegen der Kämpfe. «Die Ukraine führt zur Verteidigung laufend neue Reserven heran. Sie hat den Vorstoss der Russen hier und bei Pokrowsk vorerst erfolgreich abgeriegelt.»

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