Ukraine-KonfliktHerr Klitschko, wie realistisch ist eine Invasion Russlands?
Diesen Box-Champion kennt die ganze Welt: Witali Klitschko. Seit acht Jahren ist er Bürgermeister von Kiew. 20 Minuten hat ihn zum Interview getroffen.
Darum gehts
Witali Wladimirowitsch Klitschko ist nicht nur ein weltbekannter ehemaliger Profiboxer, seit acht Jahren ist er auch der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Wie fühlt er sich angesichts der Tatsache, dass Russland mehr als 100’000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen hat und seit Wochen die Angst vor einem russischen Angriff umgeht? 20 Minuten hat den 50-Jährigen in Kiew zum Interview getroffen.
Herr Klitschko, wie geht es Ihnen?
Gut, aber die geopolitische Situation in der Ukraine ist problematisch und macht uns grosse Sorgen.
Wie kommen Sie mit dem Druck in dieser angespannten Lage zurecht?
Es ist eine aussergewöhnliche Situation. Es ist das erste Mal seit der Unabhängigkeit vor dreissig Jahren, dass uns eine riesige Gefahr droht: Unser östlicher Nachbar will einen Krieg gegen die Ukraine beginnen. Ich möchte betonen, dass wir ein gastfreundliches und fröhliches Volk sind. Wir waren und sind niemals aggressiv gewesen, weder gegenüber unseren Nachbarn noch gegenüber anderen Ländern. Jetzt sehen wir eine grosse Gefahr, einen Albtraum auf unser Land zukommen.
«Wir wollen wirklich keinen Krieg»
Halten Sie eine Invasion Russlands für realistisch?
Ja, es kann so weit kommen. Immerhin ist ein Teil der Ukraine bereits von Russland besetzt worden - also die Halbinsel Krim und Donetsk und Lugansk im Donbass. 13’000 ukrainische Bürger sind seither gestorben und sie sterben auch jetzt jeden Tag. Wir müssen uns also auf jedes Szenario vorbereiten. Nicht umsonst stehen über 100’000 russische Truppen an der Grenze. Aber was machen die dort? Kommt die unfreundliche Rhetorik Russlands hinzu - das gibt uns allen Grund, jedes Szenario zu kalkulieren. Wobei das schlimmste Szenario ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine und somit Krieg ist - was wir wirklich nicht wollen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Russland militärische Übungen an der Grenze der Ukraine abhält. Was ist dieses Mal neu?
Die schiere Anzahl russischer Truppen, das haben wir noch nie gehabt. Ist das Zufall? Kaum. Russland droht uns, was wir als politische Erpressung wahrnehmen. Doch jeder muss wissen: Wenn jemand unser Territorium angreift, müssen wir antworten, und es wird für jeden Aggressor eine schmerzhafte Antwort werden.
Hilft es Ihnen in der Drucksituation, dass Sie Profisportler waren?
Sport hilft überhaupt im Leben. Du musst systematisch arbeiten, ein gutes Team aufbauen und Verantwortung tragen können. Mir hilft Sport so in eigentlich allen Tätigkeiten, auch in den aktuellen Spannungen. Zudem hat Sport keine Grenzen und hilft mir, dass ich Kontakte auf der ganzen Welt habe und meine Prominenz nutzen kann, um unseren Freunden die richtige Botschaft schicken kann - und auch unseren Feinden. Wir brauchen Hilfe und politische Unterstützung, notfalls auch militärische Unterstützung. Wir wissen, dass wir mit unseren Freunden stärker sind als alleine.
«Es gibt keine bessere Motivation als die Liebe»
Was ist in der derzeitigen Lage Ihre Rolle als Bürgermeister von Kiew?
Von der ukrainischen Hauptstadt hängen alle Regionen des Landes ab, Kiew ist das Herz des Landes. Jeder zehnte Bürger des Landes lebt hier. Die Stabilität der Hauptstadt wirkt sich auf das gesamte Land aus. Wir sind deswegen verantwortlich für die Erhaltung der kritischen Infrastruktur und müssen auch Schutz und Verteidigung gewährleisten können.
Sie und ihr Bruder Wladimir trainieren ebenfalls an den Waffen?
Als ehemaliger Militär, als ukrainischer Soldat, habe ich versprochen, meine Heimat zu verteidigen. Wenn es also zum Schlimmsten kommt, habe ich keine andere Wahl, als das zu tun. Mein Bruder hat es schön gesagt: Es gibt keine bessere Motivation als die Liebe. Unsere Liebe zur Heimat, zu unserer Stadt, zu unseren Familien - das gibt uns unglaublich viel Kraft.
In Kiew gibt es Tausende Schutzräume und Bunker …
Ich hoffe, dass sie nie gebraucht werden müssen. Es wäre ein Albtraum, wenn Kiew bombardiert würde. Wir möchten darüber am liebsten gar nicht nachdenken, aber wir müssen alle Szenarien in Betracht ziehen. Wie heisst es so schön: Willst du Frieden, musst du dich für den Krieg vorbereiten. Wir wollen keinen Krieg, aber wir müssen uns überlegen, wie wir unsere Bürger schützen können.
Es gibt Bedenken, Russland könnte die Olympischen Spiele in Peking für eine Invasion nutzen. Teilen Sie diese Sorge?
Schon in der Antike waren die Spiele ein Grund, Waffen schweigen zu lassen. Die Spiele sind ein Friedenszeichen, die Menschen bekämpfen sich sportlich und nicht mit Waffen. Und trotzdem: 2008 waren die Olympischen Sommerspiele in Peking und Russland nutzte diese Zeit für Aggressionen in Abchasien und nahm einen Teil von Georgien ein. Die Regeln des Waffenstillstandes zählen für Russland also nicht, leider.
«Wir können die Ukraine nicht mit Kopfkissen verteidigen»
Wäre eine neutrale Ukraine, die nicht der Nato beitritt, eine Option für Sie?
Dieser Status hilft gegen Aggressionen nicht. Ein Teil der Ukraine wurde von Russland bereits besetzt, der Krieg im Osten unseres Landes läuft noch immer. Deswegen ist die Nato für uns ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Instrument für eine effektive Verteidigung. Es ist der einzige Weg, der uns hilft. Wir sprechen aber auch von einer EU-Mitgliedschaft. Denn die Geschichte, Geografie und Mentalität zeigen, dass wir Europäer sind. Was in der Ukraine noch fehlt, ist ein europäischer Lebensstandard. Das ist unser Ziel. Und das ist der Grund, wieso Putin und Russland so aggressiv gegenüber der Ukraine sind. Der Blick nach Europa passt Putin nicht, er will das sowjetische oder russische Imperium wieder aufbauen. Aber - ich habe es schon zig Mal gesagt - wir wollen nicht zurück in die Sowjetunion! Wir waren dort und haben dort nichts verloren. Unsere Zukunft liegt in Europa, als Teil der europäischen Familie. Unser Ziel ist eine demokratische, moderne Ukraine. Doch dieses Bild passt nicht ins Gesamtbild unseres Nachbarn, also Russland.
Russland macht seine Sicherheitsinteressen geltend und will garantiert haben, dass die Ukraine nie ein Mitglied der Nato wird. Können Sie das nachvollziehen?
Nein. Das ist eine Ausrede. Von wem wird Russland denn bedroht? Etwa von uns? Nein. Die Ukraine braucht Verteidigungswaffen. Nicht, um einen Nachbarn anzugreifen, aber um sich zu schützen.
Sie haben lange in Deutschland gelebt. Jetzt haben Sie Berlin kritisiert, man halte sich in diesem Konflikt zu stark zurück.
Deutschland hat den Wunsch der Ukraine, ein Teil der europäischen Familie zu werden, immer unterstützt, und dafür bin ich sehr dankbar. Deutschland hat der Ukraine auch in vielen Dingen stark geholfen, sei es finanziell oder bei Reformvorhaben. Das anerkenne ich auch voll an. Aber bei einer Aggression gegenüber der Ukraine können wir das Land nicht mit Kopfkissen verteidigen. Wir bedanken uns auch, dass Deutschland der Ukraine Tausende von Helmen schickt - aber eben, damit kann niemand ein Land verteidigen. Werden wir angegriffen, müssen wir zeigen können, dass wir moderne Waffen besitzen und gewillt sind, unser Land zu verteidigen. Wir brauchen klare Antworten von Deutschland, ob es hinter der friedlichen Ukraine steht oder auf der Seite des Aggressors Russland. Der Wolf kann seine Zähne verlieren, aber nie seine Natur. So verhält es sich auch mit Russland, das schon immer eine aggressive Aussenpolitik betrieben hat.
Was erwarten Sie oder wünschen Sie sich von der Schweiz?
Die Schweiz hat eine sehr gute Zivilverteidigung. Ihre Bürger werden im Kriegsfall als Reservisten aufgeboten und verteidigen ihr Land. Hier können wir uns viel abschauen und wären glücklich, würde man uns hier beraten. Wir brauchen auch politische Unterstützung - und Diplomatie, die eine viel, viel wichtigere Rolle spielt als alle Waffen zusammen. Der diplomatische Weg ist der einzige Weg, diese Spannungen lösen zu können.