Russland«Ein Gerichtsprozess gegen Putin könnte die Lage stabilisieren»
Autokraten haben keine Angst mehr, fremde Gebiete zu erobern. Muss sich die Schweiz schützen? Experte Marcel Berni klärt auf.
Darum gehts
Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine häufen sich Verletzungen des internationalen Rechts.
Auch Aserbaidschan eignete sich eine Nachbarregion an, und in Venezuela geschieht dasselbe.
Vieles hänge vom Kriegsausgang in der Ukraine ab, sagt Sicherheitsexperte Marcel Berni.
Er rät der Schweiz, den Militärdienst attraktiver zu machen.
Im russischen Staatsfernsehen wird fleissig für den Krieg geworben. Die Ukraine sei nur eine Zwischenstufe, sagte etwa kürzlich ein General. Der Angriff auf Osteuropa würde länger dauern. Ein weiterer Kreml-Vertreter sprach davon, Russland müsse bis zu den natürlichen Grenzen vorstossen, bis zum Atlantik.
Andere Autokraten nehmen sich daran offenbar ein Beispiel. So hat Aserbaidschan im September Bergkarabach militärisch eingenommen, und Venezuela plant Ähnliches mit einer ölreichen Nachbarregion. Auch Taiwan, wird befürchtet, könnte von China annektiert werden.
Würde Putin Richtung Europa weitergehen, wenn er den Krieg in der Ukraine gewänne? Diese Frage stellte kürzlich Verteidigungsministerin Viola Amherd. Die Schweiz müsse sich für diesen Fall wappnen, auch wenn es derzeit keine konkreten Anzeichen dafür gebe, sagte sie im Gespräch mit der «SonntagsZeitung». «Ich hätte mir Ende 2021 auch nicht vorstellen können, dass auf europäischem Boden wieder ein konventioneller Krieg stattfindet.» Zudem müsse man an die Luftabwehr denken. «Raketen können heute aus grosser Distanz abgeschossen werden, da kann auch einmal die Schweiz in den Fokus geraten.»
Sicherheitsexperte Marcel Berni von der Militärakademie an der ETH ordnet die Situation ein und sagt, was die Schweiz tun kann.
Marcel Berni, in Russlands Staatsfernsehen wird von weitergehenden Invasionsplänen gesprochen. Wie ernst muss man das nehmen?
Das ist vor allem Rhetorik und soll zeigen, dass Russland nicht bereit ist, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Angriffe auf weitere Staaten sind derzeit unwahrscheinlich, denn Russlands Armee ist durch die grossen Verluste in der Ukraine und die lange andauernden Kämpfe geschwächt.
Verteidigungsministerin Viola Amherd sagt, die Schweiz müsse sich wappnen, weil sie plötzlich mit einem Aggressor konfrontiert sein könnte.
Ich glaube nicht, dass die Schweiz unmittelbar bedroht ist. Da gibt es andere Länder, die eher gefährdet sind, etwa Polen und das Baltikum. Dennoch hat die Invasion in der Ukraine auch für die Schweiz Folgen.
Welche Folgen?
Aktuell sehen wir, wie begrenzt die Wirkungskraft des Völkerrechts ist. Das Recht auf territoriale Unversehrtheit wird angegriffen. Das ist nicht überall so, Krieg ist nicht der Normalfall. Aber es gibt eine starke Tendenz. Für die westliche Welt ist das eine Gefahr.
«Wenn Russland gewinnt, könnte der Einmarsch in benachbarte Gebiete noch mehr Schule machen»
Was könnten die Folgen sein?
Die Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität droht wieder salonfähig zu werden. Russland hat mit seinem Einmarsch in die Ukraine Artikel 2 Absatz 4 der UNO-Charta verletzt, dort ist das Kriegsverbot verankert. Russland, das selbst im UNO-Sicherheitsrat sitzt, hat die UNO-Charta mit Füssen getreten. Die UNO kann dagegen wenig tun, weil Russland eines von fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrats ist. Das könnte ein Präzedenzfall für andere Länder sein – mit gefährlichen Folgen. Die kollektive Sicherheit ist gefährdet.
Was müsste geschehen?
Putin und seine Generäle müssten vor ein Gericht gestellt werden. Es bräuchte ein Urteil, Sanktionen und die Wiederherstellung der alten Grenzen. So könnte sich die Situation stabilisieren. Ob das geschieht, hängt vom Ausgang des Ukraine-Kriegs ab. Wenn die Ukraine gewinnt, könnte es zu einem Prozess kommen. Wenn Russland gewinnt, wäre das der schlimmste Fall, dann könnte der Einmarsch in benachbarte Gebiete noch mehr Schule machen. Auch Taiwan wäre dann akuter gefährdet wegen eines möglichen Angriffs durch China.
Ist denn ein Kriegsende in baldiger Zukunft denkbar?
Es ist möglich, dass der Krieg noch lange dauert. Und dass er unentschieden ausgeht und in einer kalten Waffenruhe endet, wie in Korea. Es herrscht zwar kein Krieg mehr, doch es gibt auch keinen Frieden. Beide Länder koexistieren entlang einer Demarkationslinie.
Sind die Vorfälle in Aserbaidschan und Venezuela Folgen der Invasion in der Ukraine?
Indirekt schon. Auch Russland hatte sich darauf berufen, dass andere Länder schon internationales Recht gebrochen hätten, was natürlich immer ein schwaches Argument ist. Ohne den Ukraine-Krieg hätte Aserbaidschans Landnahme von Bergkarabach sicherlich mehr Aufsehen erregt.
In der Schweiz will das Parlament die Militärausgaben auf ein Prozent des BIP aufstocken. Ist das richtig?
Das ist ein politischer Entscheid. Richtig ist sicher, dass die Sicherheitspolitik wieder mehr Stellenwert bekommt und dass man nach 30 Jahren Dornröschenschlaf in ganz Europa nun erwacht ist. Die Schwierigkeiten in der Schweiz liegen insbesondere bei der Finanzierung und der Rekrutierung: Es gibt zu wenige, die Militärdienst machen wollen. Dieser muss attraktiver werden.
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