Eine Scheissjugend in Oberbayern

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«Altötting ist überall»Eine Scheissjugend in Oberbayern

Lieblosigkeit, Gewalt und Sadismus im Wallfahrtsort: Andreas Altmann hat Deutschland mit einem Bestseller einen deftigen Denkzettel verpasst. Im Gespräch mit 20 Minuten Online rechnet der Autor mit Heimat, Elternhaus und Kirche ab. Von Philipp Dahm

Andreas Altmann, 62, lebt vom Schreiben, doch seine Karriere als Autor begann erst im Alter von 37 Jahren: Damals schickte er erstmals eine Reportage an «Geo» - und das renommierte Magazin kaufte prompt seine Geschichte. Seither arbeitete er als freier Journalist, bereiste aller Herren Länder für grosse Publikationen und schrieb diverse Bücher, wie zum Beispiel «Getrieben – Stories aus der weiten wilden Welt» oder «Sucht nach Leben – Geschichten von unterwegs».

Wie eine Bombe schlug sein neuestes Werk ein. «Das Scheissleben meines Vaters, das Scheissleben meiner Mutter und meine eigene Scheissjugend» ist eine schonungslose Offenbarung einer Jugend im bayrischen Wallfahrtsort Altötting, die von Einsamkeit und sadistischer Gewalt geprägt war. Eine Kostprobe gefällig?

«Ein 57-Jähriger gegen einen 13-Jährigen, ein Schwergewicht gegen eine Fliege. Was er früher als begeisterter Tennisspieler gelernt hatte, kam ihm jetzt - auf einem anderen Gebiet - bravourös zustatten. Aufschlag auf meiner rechten Gesichtshälfte. Dann eine gepflegte Rückhand auf die linke Seite. Aufschlag, Rückhand, Aufschlag, Rückhand, Aufschlag, Rückhand, ich schloss die Augen. Und spürte irgendwann seinen Ring. Hätte ich die Kraft gehabt, hätte ich gegrinst. Klar, der Alte war ja immer noch verheiratet. Das Desaster dieser Ehe bekam ich gleich mit zu spüren. Seine Wut auf alles, auf die Welt, seine Frau, seine Söhne, seinen Sohn, war meiner Wut ebenbürtig.»

20 Minuten Online: Waren Sie seit Erscheinen Ihres Buches wieder einmal in Altötting?

Andreas Altmann: Privat gehe ich selbstverständlich nicht nach Altötting. Ich gehe dahin, weil ich Geld dafür bekomme. Ich habe eine Lesung gehabt mit zwei Bodyguards, weil es Drohungen gab. Verschiedene Fernsehanstalten und Radiostationen waren da, der «Spiegel», «Süddeutsche Zeitung», et cetera.

Wie wurden Sie in ihrem Heimatort empfangen?

Es kamen 250 Leute. Laut Veranstalter hätte man 500 Karten verkaufen können. Auch Ex-Altöttinger, die mir vorher geschrieben haben, dass jede Zeile im Buch stimmt, waren da, um mich zu unterstützen. Es waren auch Gegner da und Vertreter der Kirche. Natürlich haben sie bei der Diskussion den Mund gehalten. Die alte Feigheit. Was sollten sie auch sagen? Die Namen der Täter und ihre Verbrechen sind nicht wegzudiskutieren. Das Buch lebt von seinem Wahrheitsgehalt.

Sind Sie enttäuscht, dass sich nie ein Nachbar für Sie eingesetzt hat in ihrer Kindheit?

Mein Vater hasste ja jeden. Auch die Nachbarn. Ich kann gut verstehen, dass sie kein Interesse zeigten, sich mit Herrn Franz Xaver Altmann anzulegen. Er war der «Rosenkranzkönig», im Kirchenchor. Keiner muckte auf. Dazu kam, dass die Gesellschaft damals viel toleranter gegenüber Gewalt an Kindern war. Prügel gehörten dazu. Auch unsere Religionslehrer randalierten. Der eine hasste Frauen, der andere missbrauchte sie. Beide prügelten.

In Bayern wurde die Prügelstrafe erst 1980 verboten, schreiben Sie.

In den Schulen, nicht zu Hause! Erst seit 2000 dürfen Kinder in Deutschland per Gesetz nicht mehr geschlagen werden. Unfassbar, wie lange es dauerte, bis man zu dieser Einsicht kam. Dafür sollte man ein Jahr lang die Prügelstrafe für Politiker einführen.

War ihr Vater vielleicht so brutal, weil auch schon sein Vater zuvor mit harter Hand regierte?

Ich habe meinen Grossvater nicht erlebt. Dass der Vater meines Vaters auch ein autoritärer Mensch war, kann ich nur vermuten. Ich denke, zwei entscheidende Dinge erklären das Verhalten meines Vaters: die masslose Enttäuschung über sein Leben und der lausige Beruf «Rosenkranzkönig». Und die sechs Jahre Krieg als Nazi.

Wie hat Ihr Umfeld auf das Buch reagiert?

Viele haben die Tatsachen im Buch bestätigt. Andere haben sich gewundert: «Dass du nie was erzählt hast …» Aber ich winsele nicht gern. Ausserdem: Wie hätten sie mir helfen sollen? Früher habe ich erzählt, dass ich Waisenkind bin, damit keine Fragen mehr kommen. Ich wollte nicht mehr darüber reden. Ich wusste ja: Irgendwann werde ich darüber schreiben.

Das war Ihnen immer klar?

Ja. Aber ich brauchte erst ein «Nachwort». Das Buch lebt ja auch davon, dass man sieht: Der Junge kommt davon. Trotz der schweren psychischen und physischen Schäden, die er davontrug. Immerhin ging ich durch 20 Jahre Therapie. Zudem wollte ich vermeiden, dass es so ein Tränensack-Buch wird, so ein Heulsusen-Brevier. Da musste Rotz mit rein, damit man sieht: Da ist ein Kind, das sich wehrt. Das auf Biegen und Brechen leben will. Ich habe als Schreiber viele Jahre gebraucht, um diesen Rotz, das Lakonische, zu finden. Im Sommer 2009 fiel mir der Titel ein. Da wusste ich es: Jetzt kann ich es.

Im Buch stehen Klarnamen: Gab es rechtliche Probleme?

Man hat bis vier Wochen nach Erscheinen das Recht, eine einstweilige Verfügung zu beantragen. Ich musste vorher zum Verlagsanwalt mit dem Manuskript. Es kommt ja zu ungeheuerlichen Vorwürfen und einige der Täter leben auch noch. Leider sind ihre Taten verjährt, aber ich weiss, dass sie schäumen.

Gab es Reaktionen von Geistlichen?

Die Kirche hat sich wie immer nicht entschuldigt. Kein Wort. Gar nichts. Die sind wohl wütend, dass ihnen einer auf die Schliche kam. Das Buch ist nur die Spitze vom Eisberg: Ich habe bei den Recherchen Leute getroffen, die mir verboten, über sie zu schreiben. Auch sie wurden misshandelt oder missbraucht oder beides. Altötting war eine Art geiles Sodom und Gomorrha. Ein Bordell für römisch-katholische Priester. Aber Altötting ist überall. Das zeigen die Skandale der letzten zehn Jahre. Diese Radikalität, mit der sich die Kirche an Kindern vergriffen hat. Es ist ein weltweites Phänomen.

Weist der Erfolg des Buches darauf hin, dass das Thema akuter ist als angenommen?

Das Buch «dockt» bei Leuten an, weil es um Gewalt nicht nur von Seiten der Kirche, sondern auch um Gewalt in der Familie geht. Um vom Krieg verwahrloste Väter. Um schwache Frauen, meine Mutter zum Beispiel, die sich nicht gewehrt haben. Frauen, die duldeten, statt zu handeln.

Wie schafft man es, aus diesem Sumpf herauszukommen?

Keine Ahnung. Ich hatte eben Glück, ich hatte Kraft. Mich hat das Schreiben gerettet. Ohne sässe ich heute nicht hier.

20 Minuten Online traf den Wahl-Pariser vor einer Lesung in Zürich.

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