Weg aus der Corona-Krise«Eine strukturierte Durchseuchung wäre der richtige Weg»
Der Ökonom Reiner Eichenberger will die Schweiz vom grossflächigen Schutz gegen das Coronavirus abbringen. Die Bevölkerung solle die Möglichkeit erhalten, zwischen Selbstschutz und Immunisierung zu wählen.
Darum gehts
Die Schweiz verzeichnet einen neuen Rekord an Corona-Fällen.
Ökonom Reiner Eichenberger sieht in einem zweiten Lockdown einen möglichen Dauer-Lockdown.
Als richtigen Weg schlägt er eine klug strukturierte Schutz- und Immunisierungsstrategie vor.
Herr Eichenberger*, aktuell verzeichnet die Schweiz über 2600 neue Corona-Fälle – das sind über 1000 Fälle mehr als beim Ausruf des Lockdown im März. Bleibt der Schweiz trotz aller Widerstände doch nur noch ein zweiter Lockdown übrig?
Nein. Ein zweiter Lockdown ohne glasklares Ausstiegsszenario wäre jetzt, in den Herbst- und Wintermonaten, noch fataler als vorher. Nach seiner Aufhebung würden die Zahlen wieder schnell steigen, und es brauchte einen dritten und einen vierten Lockdown – oder gleich einen Dauer-Lockdown. Das ist unbezahlbar und würde die Gesellschaft total spalten. Auch regionale Lockdowns sind keine Lösung. Damit drohen wir bald mit lauter gegroundeten und voneinander abgeschotteten Regionen dazustehen.
Welche Strategie schlagen Sie stattdessen vor?
Wir brauchen eine klug strukturierte Schutz- und Immunisierungsstrategie, also eine differenzierte Behandlung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Mittlerweile gibt es – dank der riesigen Dunkelziffer der tatsächlich Erkrankten – schon sehr viele Genesene. Sie sind nach heutigem Wissen gegen das Virus mindestens so stark und lange immun wie mit der sehnlichst erwarteten Erlösung der noch in den Sternen stehenden Impfung. Diese Immunen müssen sich wieder möglichst frei bewegen können. Sie werden in Wirtschaft und Pflege dringendst gebraucht. Allen anderen muss die Möglichkeit geboten werden, zwischen wirkungsvollem Selbstschutz und einem normaleren Leben mit dem Risiko einer immunisierenden Ansteckung zu wählen.
Wie würde diese Methode funktionieren?
Föderalistisch. Für Menschen, die sich besonders vor dem Virus schützen wollen – insbesondere Senioren und Menschen mit Vorerkrankungen –, sollten Gemeinden und Kantone zum Beispiel Ladenöffnungszeiten definieren. Dann würden zu diesen Zeiten sowohl eine speziell strenge Maskenpflicht als auch strenge Abstandsregeln gelten. Dazu sollte der Bund im ÖV genügend Waggons mit speziellen Sicherheitsvorgaben definieren. Auch sollten diese Personen Masken tragen, die einen guten Eigenschutz bieten. Diese soll der Bund bezahlen. Und er soll nur die Grenze zu Ländern schliessen, die eine viel höhere Infektionsrate haben.
Junge Menschen sollen eine Ansteckung mit dem Virus hingegen in Kauf nehmen?
Nein, die Strategie verfolgt keinerlei Zwang. Auch junge Menschen, die sich vor dem Virus speziell schützen wollen, sollen die Schutzangebote nutzen können. Jede erwachsene Person soll möglichst selbst entscheiden können: Will ich mich dem Virus aussetzen oder nicht? Für Einheitsbrei sind die gesundheitlichen Risiken und wirtschaftlichen Konsequenzen viel zu unterschiedlich.
Mit welcher Durchseuchungsrate rechnen Sie bei diesem Vorgehen bis im Sommer 2021 in der Schweiz?
Die Situation dürfte sich bis dann völlig verändern. Sobald ein Land den immunen Personen mit Immunitätspässen Freiheit gibt und eine klug strukturierte Schutz- und Immunisierungsstrategie fährt, hat es einen riesigen Wettbewerbsvorteil. In manchen Ländern, insbesondere in den USA, ist die tatsächliche Durchseuchung wohl bald so weit fortgeschritten, dass eine solche Strategie ein Muss ist.
Was heisst das?
Dann ziehen schnell viele andere Länder nach. Leider hat es der Bund verpasst, die Durchseuchung in den letzten Monaten zu erheben. Es ist verrückt, die immunen Personen nicht systematisch zu identifizieren! So hätten wir jetzt einen viel besseren Überblick und könnten gezieltere Massnahmen treffen – statt auch längst Immune in Quarantäne zu stecken.
Eine Infektion mit dem Coronavirus kann aber auch bei jungen, gesunden Menschen einen schweren Verlauf nehmen. Zudem hat das Bundesamt für Gesundheit in der Schweiz mehrere Fälle von Zweitinfektionen registriert. Würde die Schweiz mit einer strukturierten Durchseuchung nicht zu viele Risiken eingehen?
Für Junge sind die Risiken im Fall einer Ansteckung mit Corona kleiner als viele alltägliche Risiken, etwa regelmässiges Velo- oder Motorradfahren oder Bergsport. Und das Risiko von Zweitinfektionen ist zumindest unvergleichlich viel kleiner als von Erstinfektionen. Und nochmals: Die natürliche Immunität nach abgewehrter Ansteckung ist in aller Regel mindestens so stark und anhaltend wie die künstliche Immunität durch eine gute Impfung. Wer permanent gegen die natürliche Immunität redet, aber die Impfung preist, hat ein Problem.
* Reiner Eichenberger ist Ökonom und Wirtschaftsprofessor an der Universität Freiburg.
Durchseuchung ist bei Experten chancenlos
Die Experten der Corona-Taskforce des Bundes warnten in einem «Policy Brief» vom 15. September vor den gesundheitlichen Folgen einer Durchseuchung der Schweizer Bevölkerung. Demnach müssten zwei Drittel der Bevölkerung infiziert sein, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Laut den Experten würde dies den Schutz der Risikogruppen extrem schwierig gestalten. Das Virus würde sich verbreiten, bevor bei den infizierten Personen Symptome auftreten würden. Weiter kommt die Taskforce zum Schluss, dass die Zahl der Todesfälle dramatisch ansteigen würde, falls die Epidemie nicht unter Kontrolle gebracht werden könnte. Das Gesundheitssystem würde kollabieren. Auch Gesundheitsminister Alain Berset (SP) äusserte sich gegen eine differenzierte Durchseuchung: Wer glaube, man müsse nur die Verletzlichen schützen und könne ansonsten dem Virus freien Lauf lassen, begebe sich auf einen gefährlichen Weg, sagte er.