SprachwissenschaftEnglisch ist Wortmillionär
Diesen Monat soll das millionste Wort zur englischen Sprache hinzugekommen sein: «Web 2.0». Warum hat Englisch so viel mehr Wörter als Deutsch oder Französisch?
Der «Global Language Monitor» in Texas hat am 10. Juni 2009 mit «Web 2.0» das millionste englische Wort verzeichnet. Der Begriff muss dafür 25 000 Mal in einem Druckerzeugnis oder im Internet verwendet worden sein. Das vorhergehende Wort war «Jai Ho» (ein aus dem Hindi entlehnter freudiger Ausruf); das nach «Web 2.0» aufgenommene war «financial tsunami».
15 neue Wörter pro Tag
Nach den Massstäben des Global Language Monitor kommt alle 98 Minuten ein neues Wort zum jetzt schon beeindruckenden englischen Wortschatz hinzu; das sind knapp 15 Wörter jeden Tag. Die meisten Neuakquisitionen stammen dabei wie «Web 2.0» aus dem Bereich der neuen Medien. Aber auch die in Asien gesprochenen Varietäten des Englischen versorgen die Sprache fleissig mit Neologismen: «Jai Ho», das mit dem Film «Slumdog Millionaire» populär wurde, ist ein Beispiel dafür.
Allerdings meistert kein Sprecher die gigantische Anzahl der Wörter – egal in welcher Sprache. Die meisten Muttersprachler kommen mit 14 000 Wörtern locker über die Runden; nur sehr sprachgewaltige Menschen verfügen über einen aktiven Wortschatz von 50 - 70 000 Wörtern. Und in der extrem wortreichen englischen Sprache soll man sich – paradox genug – mit nur 400 Wörtern und 40 Verben verständigen können.
Englisch ist – und zwar mit grossem Abstand – die Sprache mit den meisten Wörtern. Nur schon das vollständigste englische Wörterbuch, der «Oxford English Dictionary», enthält über 600 000 Wörter. Das «Deutsche Wörterbuch» von Jacob und Wilhelm Grimm bringt es auf rund 350 000 Stichwörter; der Wortschatz der französischen Sprache umfasst, je nach Zählweise, 100 000 bis 300 000 Wörter.
Deutsch nur auf Platz 6
«Je nach Zählweise» ist hier freilich eine wichtige Einschränkung – so ist, nur ein Beispiel, der Fachwortschatz der Chemie nicht enthalten, der allein mehrere Millionen Wörter beisteuern würde. Zudem stellt sich auch die Frage, inwiefern beispielsweise zusammengesetzte Wörter (Komposita) mitgezählt werden. Französisch – das mitnichten eine wortarme Sprache ist – hat unter anderem auch deswegen einen deutlich kleineren Wortschatz, weil hier einem deutschen Wort wie «Schreibmaschine» eine Bildung aus drei bereits vorhandenen Wörtern entspricht: «machine à écrire».
Aus diesem Grund erhält man auch ganz unterschiedliche Resultate, wenn man sich auf die Suche nach dem Wortschatzumfang verschiedener Sprachen macht. So präsentiert ein in selbstbewusstem Ton gehaltener Artikel der amerikanischen Zeitung «New York Post» eine Liste, auf der Englisch, was die Anzahl der Wörter anbelangt, mit riesigem Abstand an der Spitze liegt; vor Chinesisch, Japanisch, Spanisch und Russisch. Deutsch, die Nummer 6 auf der Rangliste, soll demnach nur gerade 185 000 Wörter haben.
Warum Englisch?
Wie viele Wörter es nun im Einzelnen sind, das mag in der Tat umstritten sein. Die Tendenz ist gleichwohl klar: Englisch hat am meisten Wörter. Warum ist das so?
«Jai Ho» ist ein Beispiel dafür: Englisch ist ein Wort-Staubsauger. Im Gegensatz zu anderen Sprachen hat sich Englisch immer ungeniert und unbekümmert aus anderen Idiomen geholt, was es eben gerade brauchte. Während in Frankreich die «Académie Française» mit sprachpuristischem Fervor darüber wacht, dass kein fremdklingendes Wortgut die Sprache Voltaires verhunzt, gibt es im englischen Sprachraum keine derartige Institution. Auch für die xenophoben Anwandlungen der Nazis, die – und sie waren beileibe weder die ersten noch die letzten! – die deutsche Sprache von allem Fremden reinigen wollten, sucht man vergeblich ein Pendant in der englischen Geschichte.
Diese Integrationskraft des Englischen verdankt sich möglicherweise der Tatsache, dass Englisch mit der normannischen Eroberung – nach seiner angelsächsischen (altenglischen) Kindheit – endgültig zu einer Mischsprache wurde. Mit den Rittern Wilhelm des Eroberers strömten 1066 zahllose französische Vokabeln ins Land; neben das germanische «swine» trat das romanische «pork». Von den romanisierten Kelten hatten die Angelsachsen zudem bereits zuvor zahlreiche lateinische Wörter übernommen, und auch die Wikinger, die Küsten und Klöster der Britischen Inseln brandschatzten, hinterliessen eine ganze Menge an skandinavischem Wortgut. In der Renaissance schliesslich importierten die Engländer lateinische Begriffe sonder Zahl in ihre Sprache, so dass im modernen Englisch die Wörter mit romanischen Wurzeln zahlreicher sind als jene germanischer Abkunft.
Lingua franca
«A language is a dialect with an army and navy» («Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine»): Mit der politischen und wirtschaftlichen Erstarkung Englands weitete sich der Horizont entsprechend. Die Briten schufen im Laufe der Jahrhunderte das grösste Kolonialreich der Weltgeschichte, das schliesslich ein Viertel der globalen Landfläche umfasste. Ein Viertel der Weltbevölkerung war Untertan ihrer Majestät. Und aus den Ecken des Weltreichs strömten nicht nur Waren nach Britannien, sondern auch Wörter wie «jungle», «boomerang» oder «coyote».
Englisch als Sprache des vergangenen British Empire und des gegenwärtigen amerikanischen Imperiums ist auch Amtssprache in mehreren bevölkerungsstarken Ländern wie Indien, Pakistan oder Nigeria. Es ist das Idiom, in dem Wissenschaftler weltweit ihre Erkenntnisse publizieren. Es ist die Sprache der Manager und mittlerweile auch der Diplomaten. Es ist die Sprache der Computertechnik und der neuen Medien. Und es ist die lingua franca, in der sich – neben den Rucksacktouristen in aller Welt – immer öfter auch Welsche und Deutschschweizer verständigen. Wenn auch Han-Chinesisch die meistgesprochene Muttersprache ist, so gibt es doch keine andere Sprache, die von so vielen Menschen gesprochen und verstanden wird wie Englisch. In naher Zukunft wird es – wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit – mehr englische Zweitsprachler als Muttersprachler geben.
Wird Englisch auseinanderbrechen?
All diese «Besitzer» des Englischen alimentieren die Sprache mit neuen Wörtern, die zum Teil nur regional verwendet werden. Hier liegt eine der Quellen für die Stärke dieser wandlungsfähigen Sprache, aber hier lauert auch die Gefahr: Der Computerfachmann in Bangalore und der Holzfäller in Saskatchewan verstehen einander kaum noch. Schon Oscar Wilde soll gescherzt haben: «England and America are two nations separated by a common language» («England und Amerika sind zwei Nationen, die durch eine gemeinsame Sprache voneinander getrennt»). Wird Englisch dereinst in verschiedene Sprachen auseinanderbrechen, so wie es dem Vulgärlatein erging, aus dem die modernen romanischen Sprachen entstanden sind?
Wort
Es ist gar nicht so klar, was nun eigentlich ein Wort ist und was dementsprechend Anspruch darauf hat, als Wort gezählt zu werden. Eine allgemein akzeptierte Definition existiert in der Sprachwissenschaft nicht.
In semantischer Hinsicht sind Wörter kleinste, relativ selbstständige Träger von Bedeutung, die im Lexikon angeführt sind. In der Linguistik spricht man von Lexemen (von griech. «lexis» für «Wort»); lexikalischen Einheiten, die diverse Wortformen in einem Begriff zusammenfassen. So bilden «gehen», «ging» oder «gehst» nur ein Lexem, während «gehen» und «Gang» zwei sind.