EMRK: Menschenrechte künden, um Asylschraube anzuziehen – geht das?

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MigrationMenschenrechte kündigen, um Asylschraube anzuziehen – geht das?

Das Parlament debattierte zum wiederholten Mal über die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention – entschied sich letztlich jedoch klar dagegen. Was aber wäre, wenn? Völkerrechtsexperte Andreas Müller erklärt.

Das Parlament will die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht kündigen – der Nationalrat nahm jedoch einen Asyl-Vorstoss an, der vom Bundesrat als menschenrechtswidrig kritisiert wird.
Steht die EMRK also Lösungen im Asylbereich im Weg? Völkerrechtsprofessor Andreas Müller von der Universität Basel erklärt, weshalb eine Kündigung der EMRK alleine diesbezüglich untauglich wäre.
«Täte die Schweiz das, wären zwar die völkerrechtlichen Verpflichtungen durch die EMRK weg», so Müller. «Aber sie bliebe weiterhin an ihre Verpflichtungen aus dem UNO-Zivilpakt, aus dem Völkergewohnheitsrecht und an die Grundrechte nach Bundesverfassung gebunden.»
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Das Parlament will die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht kündigen – der Nationalrat nahm jedoch einen Asyl-Vorstoss an, der vom Bundesrat als menschenrechtswidrig kritisiert wird.

20min/Matthias Spicher

Darum gehts

  • Das Parlament debattierte wiederholt über die Frage, ob die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kündigen soll.

  • Dies lehnten beide Räte zwar ab – doch am selben Tag nahm der Nationalrat einen Asyl-Vorstoss der SVP an, der gegen ebendiese Menschenrechte verstosse.

  • Völkerrechtsprofessor Andreas Müller erklärt, weshalb ein Austritt aus der EMRK nicht nur keine Lösung für Asylprojekte ist, sondern zugleich einen immensen Schaden anrichten könnte.

Herr Müller, die SVP will die EMRK künden. Eine gute Idee?

Nein. Täte die Schweiz das, wären zwar die völkerrechtlichen Verpflichtungen durch die EMRK weg. Aber sie bliebe weiterhin an ihre Verpflichtungen aus dem UNO-Zivilpakt, aus dem Völkergewohnheitsrecht und an die Grundrechte nach Bundesverfassung gebunden. Die EMRK zu kündigen, ist nicht das richtige Instrument.

Andreas Müller ist Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Basel.

Andreas Müller ist Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Basel.

zvg

Trotzdem: Vom Volk gewählte, bürgerliche Parlamentarier wollen Lösungen im Migrationsbereich einführen, die gegen die EMRK verstossen. Steht die EMRK Lösungen hier nicht im Weg?

Die Kündigung der EMRK alleine wäre untauglich, um diese Gesetzesänderungen im Asylwesen durchzubringen, weil diese noch gegen diverse andere Verpflichtungen der Schweiz verstossen. Gleichzeitig würde eine EMRK-Kündigung immensen Schaden anrichten. Um das klarzustellen: Es ginge hier nicht nur um einen aushaltbaren Reputationsverlust, sondern um einen gravierenden Vertrauensverlust aller europäischer Partner. Denn die EMRK verkörpert den gemeinsamen menschenrechtlichen Mindeststandard in Europa, auf den sich alle europäischen Staaten ausser Russland und Belarus verpflichtet haben.

«Die EMRK ist sozusagen die Geschäftsgrundlage für die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und europäischen Staaten.»

Welche konkreten Auswirkungen hätte das?

Wir haben nicht viele Erfahrungswerte, was das betrifft. Andere europäische Staaten hätten aber kein Verständnis dafür, wenn dieser Schritt aufgrund des Klimaseniorinnen-Urteils oder wegen anderen Entscheiden des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gemacht würde. Auch wirtschaftliche Einbussen würden folgen; so wäre etwa die EU-seitige Anerkennung der Äquivalenz der Schweizer mit den EU-Datenschutzstandards in Frage gestellt. Die EMRK ist sozusagen die Geschäftsgrundlage für die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und europäischen Staaten.

Hat je ein Land die EMRK gekündigt?

Die EMRK sieht ausdrücklich vor, dass man aus dem Vertrag austreten kann. Gemacht hat das nur Griechenland, das während der Militärdiktatur 1967 austrat, nach Beendigung dieser aber wieder eintrat. Russland ist nicht mehr dabei, trat jedoch nicht selbst aus, sondern wurde nach dem Angriff auf die Ukraine ausgeschlossen.

Hat denn nur die Schweiz Mühe mit diesem Vertrag?

Ganz und gar nicht. Grossbritannien, skandinavische Staaten und viele Staaten in Osteuropa haben zu verschiedenen Zeiten bezüglich der EMRK immer wieder Bauchschmerzen gehabt oder kritische Diskussionen geführt. Doch sie sind alle geblieben. Ein Austritt ist eine sehr, sehr hohe Hürde. So kann man auch das deutliche Votum in National- und Ständerat verstehen. Wenn man Missstände sieht, muss man die auf andere Art und Weise lösen, als mit einem Austritt.

«Rechtsstaatliche Demokratie bedeutet nicht, dass notwendigerweise das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt die Mehrheit will, auch immer schon gleich das Richtige ist.»

Aber die Forderungen des Parlaments sind demokratisch legitimiert.

Rechtsstaatliche Demokratie bedeutet nicht, dass notwendigerweise das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt die Mehrheit will, auch immer schon gleich das Richtige ist. Denn wir haben demokratisch beschlossene Prinzipien des Zusammenlebens, die in der Bundesverfassung festgelegt sind, darunter die Grundrechte, das ist die Grundlage für das Alltagsgeschäft. Gesetzgebung, das heisst Mehrheitsentscheidungen, die in diesem verfassungsrechtlichen Rahmen stattfinden, ist harte Arbeit – dazu hat man ein Parlament. Es gilt, herauszuarbeiten, wo es Handlungsspielraum gibt, ohne diesen Rahmen zu verletzen.

Wo gibt es ihn?

Man kann über den Tellerrand schauen: Nicht nur die Schweiz ist in dieser Situation. Die EU hat mit dem Asylreform-Paket – welches auch kontrovers diskutiert wurde – versucht, solche Handlungsräume zu nutzen. Wie gut das klappen wird, bleibt abzuwarten. Aber es ist etwas anderes, wenn man von vorneherein sagt, «ich will mich jeder lästigen Menschenrechtsbindung entledigen, um gewisse politische Projekte unverändert durchzuführen».

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