Tourismus in der Corona-KriseEs droht die grosse Pleitewelle
Wie steht es um die Reisebranche: Brennt erst das Entrée des Hauses oder wütet das Feuer bereits lichterloh unter dem Dach?
Die Airlines fahren ihre Flugpläne wieder sachte hoch, Grenzöffnungen zum nahen Ausland sind in Sichtweite. Vanessa Bay, die zusammen mit Dominik Buholzer die virtuelle Podiumsdsikussion leitete, fragte in die Runde, ob die Durststrecke für die Reisebranche demnach bereits durchgestanden sei?
Die Swiss Travel Communicators sind das führende Schweizer Netzwerk für diejenigen, die mit Medienarbeit im Tourismus zu tun haben. Viermal jährlich lädt das Netzwerk namhafte Persönlichkeiten aus der Branche zu Podiumsdiskussionen ein. Zum Thema «Reisebranche – Folgt auf das Corona-Virus die Pleitewelle?» diskutierten auf dem virtuellen Podium:
- Max E. Katz, Präsident Schweizer Reise-Verband
- André Lüthi, VR-Präsident Globetrotter Travel Service
- Dieter Zümpel, CEO DER Touristik Suisse
- Martin Reber, Geschäftsführer Schär-Reisen Bern AG
1 – Die aktuelle Situation: Rückzahlungen in Millionenhöhe
Die Reiseveranstalter und Reisebüros kämpfen seit Ausbruch der Corona-Krise alle mit denselben Problemen. In einer ersten Phase hiess es, die Kunden zu unterstützen, damit diese wieder in die Schweiz zurückkehren können. Danach folgte eine Flut von Annulationen und Umbuchungen. Dieter Zümpel von DER Touristik, einem der grössten Reiseanbieter Europas zu dem auch Kuoni und Helvetic Tours gehören, sagt: «Wir haben alleine in der letzten Woche Kundengelder in der Höhe von zehn Millionen Franken zurückzahlen müssen.» André Lüthi von Globetrotter bestätigt: «Wir hatten bis jetzt tausende von Annulationen.» Die Situation sei dramatisch. Es sei eine Phase, in der die Branche enorm viel Arbeit zu bewältigen habe. Doch diesem Mehraufwand stehe kaum Ertrag gegenüber. Max E. Katz vom Schweizer Reise-Verband sagt dazu: «Was mich sauer machte, ist, dass man während den Wochen des Lockdowns vorwiegend über Coiffeure und Floristen diskutierte. Dass es die seien, die am meisten leiden.» Dabei hätten diese Berufsgruppen tatsächlich sechs Wochen keine Arbeit gehabt, «aber an dem Tag als sie wieder öffnen durften, hatten sie wieder volle Agenden.» Reisebüros im Gegensatz mussten in den letzten Wochen die Arbeit von Monaten stornieren. Und nun da sie wieder öffnen, kommen kaum Buchungen rein. Immerhin habe die Politik mit einem sogenannten Rechtsstillstand geholfen. Damit können die Reisebüros bis zum 30. September nicht betrieben werden. Das verschafft vorerst etwas Luft. Die Zeit müsse man nun nutzen, um nachhaltige Lösungen für die Zukunft zu finden, sagt Katz. André Lüthi bestätigte: «Die Politik möchte helfen, sie sucht nach Lösungen.»
Was mich sauer machte, ist, dass man während den Wochen des Lockdowns vorwiegend über Coiffeure und Floristen diskutierte.

Die Reisebranche täte aktuell nichts lieber, als den Gästen wieder Reisen zu verkaufen – beispielsweise einen Roadtrip durch Japan (Bild). Stattdessen ist man mit Annulationen und Umbuchungen beschäftigt.
Nico Schaerer, nuvu.ch2 – Ein zentrales Problem: die Airlines
Bei einem Thema findet Martin Reber von Schär-Reisen klare Worte: «Was mich absolut auf die Palme jagt, ist die Tatsache, dass die Airlines bis zu elf Monate im Voraus die Flugkosten voll einkassieren und das Geld nach dem Schneeballprinzip vor Abflug des Kunden als Betriebskredit benötigen.» Dieser Meinung sind auch die weiteren Podikumsteilnehmer. Sie bestätigen, dass sich das Problem in dieser Krise akzentuiert habe. Folgendes ist das Problem: Bucht ein Kunde in einem Reisebüro einen Flug, wird das Kundengeld an die Airline überwiesen. Die Airline erbringt die Leistung jedoch oft erst Monate später. In der Corona-Krise sind die Reisebüros, die das Geld bereits an die Airlines überwiesen haben, jedoch gesetzlich verpflichtet, den Kunden das Geld für die annullierten Flüge zurückzubezahlen. Gleichzeitig müssen sich die Reiseveranstalter und Reisebüros mit der Rückzahlung seitens der Airlines gedulden. Die Airlines geraten in einer solche Krise mitunter ins Schleudern, weil sie Kundengelder für noch nicht erbrachte Leistungen bereits ausgegeben haben.
Was mich absolut auf die Palme jagt, ist die Tatsache, dass die Airlines bis zu elf Monate vorher die Flugkosten voll einkassieren ...
Man ist sich einig, da muss sich etwas am System ändern. Ob das realistisch sei? Max E. Katz fragt rhetorisch: «Wenn nicht jetzt, wann dann?» Und legt gleich einen möglichen Lösungsvorschlag auf den Tisch: «Wünschenswert wäre ein sogenanntes Escrow-System. Die Kundengelder kämen auf ein Sperrkonto, die Airlines erhalten das Geld erst, wenn der Flug durchgeführt wurde.»
Der Umgang der Airlines mit den Kundengeldern ist jedoch nur eines von vielen Problemen in dieser Krise. Nicht zu vergessen, dass die Airlines selber genauso unter der Corona-Krise leiden. So verliert die Swiss beispielsweise aktuell pro Tag mehr als 3 Millionen Franken. Und wurde nun verplichtet die ausstehenden Zahlungen an die Reiseveranstalter und Reisebüros bis Ende September zu begleichen.

Airlines müssen mit Kundengeldern in Zukunft anders umgehen, ist man sich bei den Reiseveranstaltern und Reisebüros einig.
Nico Schaerer, nuvu.chUnd jetzt – Kopf hängen lassen?
Die meisten Reisebüros von DER Touristik sind seit letzter Woche wieder offen. Und sie werden auch wieder frequentiert, was Dieter Zümpel freut. Generell sieht er in der Krise nicht schwarz, sondern möchte diese konstruktiv angehen. Er sagt dennoch: «Es kommen Kunden, die wieder buchen möchten - doch der Buchungseingang ist homöopathisch, nahe null.» Die kommende Zeit werde beratungsintensiv. Und weiter: «Da kommt eine riesige Menge Arbeit auf uns zu.» Denn die Kunden werden viel Unterstützung brauchen, da die Destinationen zu den unterschiedlichsten Konditionen wieder öffnen werden.
Aber was ist normal? Für mich wäre es ein bewussteres Reisen, die Geschwindigkeit raus nehmen, weniger Reisen pro Jahr, weniger Kurztrips, dafür unterwegs etwas lernen und erleben.»
Für das Jahr 2020 ist man sich einig, dass der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr zwischen 50 – 70 Prozent zurück gehen werde. Wobei man bei einem 50-prozentigen Rückgang von einem «best case»-Szenario spricht. «Damit muss jedes Reiseunternehmen in der Schweiz klar kommen», sagt Martin Reber, ansonsten komme die Pleitewelle. Ohne ein Hilfspaket für die Branche werden voraussichtlich viele Reisebüros schliessen müssen. «Von den 1300 Reisebüros dürften 20 bis 25 Prozent nicht überleben», schätzt Max E. Katz. Er prognostizierte bereits im April, dass Tourismus in die Überseedestinationen erst nächstes Jahr wieder möglich sein wird. «Dabei bleibe ich», doppelt er nach. Auch für André Lüthi ist die grosse Frage, wann die Ferndestinationen wieder aufgehen werden. Mit einem «back to normal» rechnet die Reisebranche erst in den Jahren 2023 oder gar 2024. Und der Tourismus werde sich verändern, ist sich Max E. Katz sicher. Er sagt: «Die Reisenden suchen in Zukunft Ferien mit weniger Menschenansammlungen und mehr Nähe zur Natur.» Wird Reisen dadurch teurer, exklusiver und nicht mehr gleich verfügbar? Das könne er sich durchaus vorstellen, bestätigt Katz. Was André Lüthi von Globetrotter freut und worin er auch ein Chance sieht: «Das ist, was ich seit Jahren mantramässig erzähle - aber was ist normal? Für mich wäre es ein bewussteres Reisen, die Geschwindigkeit raus nehmen, weniger Reisen pro Jahr, weniger Kurztrips, dafür unterwegs etwas lernen und erleben.»
Abschliessend ist anzumerken, dass keiner der Podiumsteilnehmer ins Jammern verfiel. Die Tatsachen wurden wohl beim Namen genannt, der Krise möchte man jedoch genauso etwas Positives abgewinnen oder ihr zumindest mit viel Engagement entgegentreten.

Werden wir vermehrt abgelegene Orte und intensive Reiseerfahrungen suchen?
Nico Schaerer, nuvu.ch