Bundesrat macht Druck auf Ungeimpfte«Einige werden sich nun doch noch impfen lassen»
Ungeimpfte stehen nicht mehr unter Schutz und sie sollen COVID-Tests selber bezahlen: Das ist die Botschaft des Bundesrats. Epidemiologinnen und Epidemiologen reagieren kritisch.
Darum gehts
Der Bundesrat ändert seine Kommunikationsstrategie. Noch bleiben die Massnahmen erhalten, doch sie dienen nicht mehr dem Schutz der Ungeimpften.
Tests, mit denen Ungeimpfte sich einen Freipass für Anlässe und Reisen verschaffen, kosten ab Oktober.
Epidemiologinnen und Epidemiologen bezweifeln, dass der Druck auf Ungeimpfte die Impfquote erhöhen wird.
Die COVID-Massnahmen bleiben vorerst noch bestehen – aber explizit «nicht für die Ungeimpften». Das war die Botschaft von Gesundheitsminister Alain Berset und Patrick Mathys, stellvertretender Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten, als sie am Mittwochnachmittag vor die Medien traten (siehe Box). Das Augenmerk gilt jetzt den Spitälern, die vor Überlastung geschützt werden sollen. Die Ungeimpften sind für sich selbst verantwortlich. «Der Bundesrat geht davon aus, dass eine Zunahme der Infektionen, der Hospitalisierungen und der Todesfälle nicht zu vermeiden ist», hiess es.
Mehrmals während der Medienkonferenz liess Berset durchblicken, dass der Bundesrat Druck machen möchte auf die ungeimpfte Bevölkerung. Für jene, die den Test nicht bezahlen wollen oder können, gebe es immer noch die Möglichkeit einer Impfung, sagte er. «Diese ist gratis.»
«Ein paar werden sich impfen lassen, aber der grosse Schub wird ausbleiben.»
Ist es richtig, den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen, indem man die Tests kostenpflichtig macht? Und erreicht der Bundesrat damit sein Ziel, die Impfquote zu erhöhen?
«Eine höhere Impfbereitschaft und Solidarität entsteht nicht durch Zwang, sondern durch Kommunikation», sagt der Epidemiologe. «Ein paar würden sich wohl wegen dieser Massnahme impfen lassen, aber der grosse Schub werde ausbleiben», schätzt er.
Laut Tanner habe die relativ niedrige Impfquote in der Schweiz viel mit Psychologie zu tun. Den Leuten werde etwas vorgeschrieben, staatlich auferlegt. Das erkläre, warum viele Impfkritikerinnen und Impfkritiker kein Problem damit hätten, sich bei einer Afrika-Reise gegen Gelbfieber impfen zu lassen. «Dabei ist die Gelbfieber-Impfung risikobehafteter als die mRNA-Impfung gegen Corona.» Im Vergleich mit anderen Impfungen habe die Covid-Impfung eine ausserordentlich hohe Schutzwirkung und wenig Nebenwirkungen. «Sie hat ein sehr günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis», sagt Tanner.
«Eher kurzsichtige» Massnahme
Die Tests kostenpflichtig zu machen, bezeichnet er als «eher kurzsichtig». Die Testkosten betrügen einen Bruchteil dessen, was uns die ganze Pandemie kostet. Dafür seien die Tests aber ein wertvolles Überblicks-Instrument und es gehöre zu einer soliden Pandemie-Bekämpfung, sie jetzt noch gratis anzubieten.
Vor allem müsse man das Impfangebot niederschwelliger zugänglich machen, kommunizieren, zu den Leuten gehen. «In England beispielsweise haben Hausärztinnen und Hausärzte ihre vulnerablen Patientinnen und Patienten angerufen, um ihnen die Impfung ans Herz zu legen.» Das sei eine von vielen möglichen Massnahmen. «Kuchen auf dem Bundesplatz ist gut – aber es genügt nicht», sagt Tanner.
Bundesrat verteidigt seine Strategie
Mit entsprechend kritischen Fragen war der Bundesrat während der Medienkonferenz konfrontiert. Bersets Kommentar dazu: «Es erscheint uns nicht matchentscheidend für die Pandemiebekämpfung, dass Leute, die reisen oder Party machen wollen, sich gratis testen lassen können.» Zudem gebe es bei der Testaktivität heute schon einen grossen Rückgang. Andere würden sich auch künftig trotz Kostenpflicht testen lassen. Deshalb geht Berset davon aus, dass die Tests dem Bund auch in Zukunft einen Überblick über das Infektionsgeschehen liefern.
«Es gibt auch die Möglichkeit, sich impfen zu lassen»
Bundesrat macht Druck auf Ungeimpfte
Wer heute einen Test und ein 48-Stunden-Zertifikat braucht, um ins Ausland zu reisen oder ein Konzert zu besuchen, bekommt das gratis. Ab Oktober sollen diese Antigen-Schnelltests kosten – auch die fünf Gratis-Selbsttests, die es heute pro Person und Monat in der Apotheke zu holen gibt. «Es gibt einen Moment, ab dem es sich nicht mehr rechtfertigen lässt, diese Kosten zu überwälzen», sagte Gesundheitsminister Alain Berset (SP) am Mittwochnachmittag vor den Medien. Angenommen, jemand lasse sich einmal pro Woche testen, was rund 50 Franken koste, mache das in zehn Wochen 500 Franken, ergänzte er. Und: «Es gibt auch die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, gratis.»
Weiterhin gratis sind die Tests für Kinder unter zwölf Jahren, für Personen, die sich nicht impfen lassen können und für solche mit Covid-Symptomen. Damit wählt die Schweiz denselben Weg wie Deutschland und Frankreich. Auch dort kosten ab Oktober die Tests. Der Bundesrat gibt diesen Vorschlag nun bei den Kantonen und bei den Sozialpartnern in die Konsultation und entscheidet am 25. August definitiv. Am 1. September entscheidet er über eine allfällige Aufhebung der Massnahmen.
Faktisch ändert sich vorläufig nichts an der Situation. Der Bundesrat schlägt vor allem rhetorisch einen anderen Ton gegenüber Ungeimpften an. Berset und Mathys sagten am Mittwochnachmittag vor den Medien, die Aufrechterhaltung der Massnahmen diene «nicht der ungeimpften Bevölkerung». Der Bundesrat gehe davon aus, dass es künftig vermehrt Infektionen, Hospitalisierungen und auch Todesfälle geben werde. Das wird in Kauf genommen. (blu)
Auch Jürg Utzinger, der heutige Direktor des Tropeninstituts, unterstützt den Vorschlag, Schnelltests kostenpflichtig zu machen. Allerdings gebe es noch offene Fragen, mit der Übergangsfrist bis Ende September sei das ein salomonischer Entscheid. Dieser könne dazu führen, dass Einige sich doch noch impfen lassen werden, mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass die Tests nachher kostenpflichtig sind.
Dass der Bund jetzt nicht mehr auf Ungeimpfte Rücksicht nehmen könne, sei absolut korrekt. Utzinger gibt zu bedenken, dass in vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen noch nicht einmal die Hochrisiko-Gruppen geimpft seien, weil der Impfstoff schlicht und einfach fehle. In der Schweiz seien wir in der privilegierten Lage, uns «gratis und franko» impfen lassen zu dürfen.
Auch der oberste Impf-Chef Christoph Berger steht hinter der bundesrätlichen Strategie. «Gewissen Leuten sei das Testen vielleicht zu mühsam oder künftig zu teuer.» Von daher sei es denkbar, dass der Entscheid zur Abschaffung der Gratistests zu einer höheren Impfquote führe. «Ich könnte mir vorstellen, dass das einen Effekt hat.»
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