Eskalation in Nahost: Angriffe Israels: «Die Geiseln sind nur ein vorgeschobener Grund»

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Eskalation in NahostAngriffe Israels: «Die Geiseln sind nur ein vorgeschobener Grund»

Seit Dienstag greift die israelische Armee wieder Ziele im Gazastreifen an – die zweimonatige Waffenruhe ist Geschichte. 20 Minuten sprach mit der Nahost-Expertin Bente Scheller über die aktuelle Lage.

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Israel hat am Dienstag mit einer massiven Angriffswelle im Gazastreifen begonnen.
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Innert kürzester Zeit kamen dadurch 300 Menschen ums Leben.
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Das Vorgehen war eng mit dem Weissen Haus abgestimmt.
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Israel hat am Dienstag mit einer massiven Angriffswelle im Gazastreifen begonnen.

Getty Images

Darum gehts

  • Seit Dienstag greift Israel wieder Ziele im Gazastreifen an, die Waffenruhe ist beendet.

  • Die Angriffe werden mit der Geiselnahme durch die Hamas begründet, doch Experten sehen andere Gründe.

  • Die USA spielen eine wichtige Rolle, haben aber keinen klaren Plan für Frieden.

  • Die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal, Hilfsgüter kommen kaum an.

  • Langfristige Lösungen für den Konflikt sind nicht in Sicht.

Mehrere Wochen herrschte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas – doch damit ist seit Dienstag Schluss: Nachdem Gespräche über weitere Geiselfreilassungen gescheitert waren, hat Israel neue Angriffe gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen gestartet. Bislang wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Hamas über 300 Menschen getötet. Das Vorgehen war eng mit den USA abgestimmt.

Frau Scheller, was führte zur erneuten Eskalation im Nahen Osten?

Die erste Phase des Gaza-Deals ist ausgelaufen. Während der sechs Wochen galt eine vollständige Waffenruhe, zudem stand der Austausch der Geiseln im Vordergrund. Eigentlich sollten sich Israel und die Hamas nun in der zweiten Phase befinden, die einen vollständigen Abzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und eine Freilassung aller verbleibenden überlebenden Geiseln durch die Hamas vorsieht.

Israel stimmte nach dem Auslaufen der Phase I aber einem US-Plan zu, der vorsah, diese und die damit verbundene Waffenruhe im Gegenzug für die Freilassung von Geiseln bis nach Ramadan und dem jüdischen Pessach-Fest bis zum 20. April zu verlängern. Die Hamas hat den Vorschlag nicht akzeptiert.

Israel begründet die Angriffe damit, dass immer noch Geiseln in Gaza festgehalten werden.

Ich halte das für eine fadenscheinige Begründung. Weiterhin befinden sich 73 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass die allermeisten Geiseln durch Verhandlungen freigekommen sind und nicht durch militärische Angriffe. Ausserdem ist die Hamas laut Militärexperten weitestgehend zerstört, 23 der 24 Brigaden existierten nicht mehr. Das Risiko, das von ihnen ausgeht, ist also sehr klein.

Wenn es nicht um die Geiseln geht, warum fährt Israel die Angriffe wieder hoch?

Einerseits, weil Trump sich für die Ausdehnung von Phase I ausgesprochen hat, andererseits, weil Netanyahu innenpolitisch unter Druck steht. Sehr rechte Teile seiner Regierung waren von Anfang an gegen die Waffenruhe.

Welche Rolle spielen die USA?

Donald Trump will vor allem eines: einen schnellen Frieden. Ich bezweifle jedoch, dass er und seine Berater einen detaillierten Plan haben, wie ein solcher erreicht werden soll. Die ausgehandelte Waffenruhe war ja mehrheitlich noch ein Erbe der Biden-Regierung.

Ist es jetzt wahrscheinlich, dass die USA sich auch militärisch einmischen?

Davon gehe ich nicht aus. Trump hat mehrfach deutlich gemacht, dass er das nicht will. Die punktuellen Angriffe, beispielsweise gegen die Huthis im Jemen, haben eher wirtschaftliche Hintergründe. Trump sagt ja immer: «Wenn die USA sich einmischen, muss es sich auch für sie lohnen.»

Begründet haben die USA ihre Schläge gegen die Huthis damit, dass diese US-Schiffe und andere Frachter angegriffen hätten. Die Offensive soll, so haben die USA gesagt, die Freiheit der Schifffahrt wieder herstellen – und amerikanischer Abschreckung wieder Nachdruck verleihen.

Zur Person: Bente Scheller

Bente Scheller, Nahost-Expertin der Heinrich-Böll-Stiftung.

Bente Scheller, Nahost-Expertin der Heinrich-Böll-Stiftung.

Privat

Bente Scheller leitet seit 2019 das Referat Nahost und Nordafrika der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Von 2012 bis 2019 war sie die Referatsleiterin des Regionalbüros Mittlerer Osten der Stiftung in Beirut/Libanon. Zuvor leitete sie das Büro in Afghanistan und arbeitete von 2002 bis 2004 als Referentin für Terrorismusbekämpfung an der deutschen Botschaft in Damaskus. Sie promovierte an der FU Berlin zu syrischer Aussenpolitik.

Was ist Netanyahus und Trumps Ziel für den Gazastreifen?

Viel deutet darauf hin, dass die israelische Regierung es der Zivilbevölkerung im Gazastreifen so schwer wie möglich machen möchte: So wurden beispielsweise kürzlich der Strom und das Wasser in Gaza abgestellt. Ich glaube, Netanyahu versucht einfach, Zeit zu gewinnen, hat aber keine klare Vision.

Rechtsaussen-Politiker der israelischen Regierung wollen dagegen ein «Gross-Israel» schaffen. Der ehemalige Verteidigungsminister, Yoav Gallant, nannte die Menschen in Gaza «menschliche Tiere». Sie sehen sie als Teil eines Problems, dem man sich entledigen muss. Und klar ist auch: Je länger die Angriffe anhalten, desto weniger Menschen werden im Gazastreifen leben wollen. Netanyahu hat sogar schon bei Staaten wie Somalia oder Indien angefragt, ob diese Palästinenser aufnehmen würden.

Trump sprach zwar von einer «Riviera des Nahen Ostens», ich glaube aber kaum, dass er das ernst meint. Denn, wer soll die bezahlen? Ich glaube, er wollte damit zeigen, wie visionär er denkt – nur umsetzen sollen es andere.

Was bedeutet das für die Menschen im Gazastreifen?

Viele Menschen im Gaza, darunter vor allem Kinder, sind extrem traumatisiert. Sie haben nichts mehr, was steht und leben in Zelten. Das wird jetzt so weitergehen. Die humanitäre Situation ist katastrophal, und Israel lässt derzeit nur sehr begrenzt Hilfsgüter rein. Auch erhalten viele Ärzte momentan keine Genehmigung einzureisen, was die Situation weiter verschlimmert.

Wie wird es in den nächsten Monaten im Gaza weitergehen?

Langfristig sehe ich keine Lösung in dem Konflikt. Unter allen vorherigen US-Regierungen hatten die USA die führende Rolle in den Vermittlungen gespielt, aber das sehe ich jetzt unter Trump nicht mehr – denn das erfordert Geduld und die Bereitschaft, auch Details zu verhandeln. Gleichzeitig hatten auch mehrere arabischen Staaten Pläne für eine Friedenslösung vorgelegt. Allerdings müssen dafür beide Parteien, Israel und die Hamas, im Boot sein. Es ist schwer vorstellbar, dass Israel auf einen Verhandlungskoordinator abseits der USA vertrauen wird.

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