Experte erklärtGewaltvolle Proteste: Deshalb versinkt England im Chaos
Seit über einer Woche sind Städte in England und Nordirland Schauplatz von gewaltvollen Ausschreitungen geworden. Auslöser der Unruhen war ein Dreifachmord – doch der Ursprung der Wut liegt tiefer.
Darum gehts
Ende Juli tötete ein 17-Jähriger drei Kinder bei einer Tanzparty in Southport, woraufhin rechtsextreme Gruppen zu Aufständen aufriefen.
Seither kommt es täglich zu Krawallen im ganzen Land, über 6000 Polizisten sind im Einsatz.
Polit-Analyst Mark Garnett sieht unter anderem den Brexit und eine tiefgehende Vertrauenskrise als Hauptursachen.
Die Situation könne sich zu einem lang anhaltenden Problem entwickeln.
Ende Juli tötete ein 17-Jähriger drei Kinder bei einer Taylor-Swift-Tanzparty im nordenglischen Southport. Nur wenige Stunden später zirkulierten Falschinformationen über den Täter – rechtsextreme Gruppierungen nahmen diese zum Anlass, zu Aufständen in den Strassen aufzurufen.
Seither kommt es täglich im ganzen Land zu Krawallen – über 6000 Polizistinnen und Polizisten sind im Einsatz. Mark Garnett ist Polit-Analyst an der Lancaster Universität, nur 60 Kilometer nördlich von Southport, und beleuchtet gegenüber 20 Minuten die Hintergründe der Eskalation.
Weshalb ist die Stimmung in England so geladen?
Einen genauen Wendepunkt zu definieren, sei schwierig, sagt Garnett. «Der offensichtlichste ist aber der Brexit 2016: Die Entwicklung danach hat viele Briten und Britinnen frustriert. Ihnen wurde gesagt, dass alle Probleme, darunter auch die Migration, irgendwie auf magische Weise gelöst würden, sobald die Kontrolle wieder in britischer Hand läge.» Das sei nicht passiert. Zudem stecke das Land in einer tiefen Vertrauenskrise in die britischen Institutionen. «Die Menschen vertrauen der Polizei nicht mehr so wie früher – aber vor allem haben sie komplettes Misstrauen in die Politiker», so Garnett.
Migrationsdebatte spaltet das Land – weshalb?
Die Migration gelte in England als grösstes Problem, erklärt Garnett. Fast 700’000 Menschen sind 2023 nach Grossbritannien gekommen, die allermeisten nicht, weil sie flüchten mussten, sondern wegen der Arbeit. Das führt zu Problemen bei der Integration, gerade konservative Stimmen beklagen laut Migrationsexperte Benjamin Schraven, dass Migranten aus muslimischen Ländern in Parallelgesellschaften lebten und nicht die Werte einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft teilten.

Rechte Gruppierungen schürten das Gefühl, dass «unkontrollierte Migration» der Grund für alle Probleme sei, sagt Polit-Analyst Mark Garnett. (Im Bild: Rotherham, 4. August 2024)
Getty ImagesFür Garnett ist das aber nur ein Teil des Problems. «Grossbritannien braucht diese Arbeitsmigranten, weil sie Jobs übernehmen, etwa in der Pflege, die Britinnen und Briten nicht machen wollen. Nur ist es bisher keiner Regierung gelungen, diese Notwendigkeit der Bevölkerung aufzuzeigen.» Das führe zu Spannungen, die gezielt instrumentalisiert würden von einer kleinen Gruppe, die schlicht «Faschisten» seien: «Sie schüren das Gefühl, dass ‹unkontrollierte Migration› der Grund sei für alle Probleme.» Der jetzige Kampf finde zwischen dieser Gruppe und den Behörden statt.
Hat die Regierung dieses und andere Probleme zu lange ignoriert?
«Unter der konservativen Führung wurde nichts Effektives unternommen», sagt Garnett. Ex-Premierminister David Cameron habe zwar bereits 2010 versprochen, dass die Nettozuwanderung auf unter 100’000 Personen pro Jahr gesenkt würde. «Er gab dieses Versprechen, nannte eine Zahl – ohne irgendwelche Massnahmen zu implementieren, um dieses Ziel zu erreichen.»
Elon Musk sagt, Grossbritannien sei am Rande eines Bürgerkriegs – ist das so?
«Die Situation ist noch lange nicht in der Nähe eines Bürgerkriegs», versichert Garnett. «Aber: Die Zutaten für ein ernsthaftes, lang anhaltendes Problem sind vorhanden.»
Neo-Premierminister Keir Starmer erbt einen Scherbenhaufen – wie hat er die Situation bisher gehandhabt?

«Indem Keir Starmer jetzt die Symptome bekämpft, kann er sich vielleicht eine Atempause verschaffen – in der er dann ernsthafte Gespräche mit richtigen Experten führen kann, um die Ursachen der Probleme anzugehen», sagt Garnett.
AFP«Er muss nun zuallererst die Symptome des Problems bekämpfen: Deshalb hat er eine sehr harte Linie gegenüber den Randalierenden eingeschlagen», erklärt Garnett. Damit setze er sich aber nun dem Vorwurf aus, dass er gegenüber weissen britischen Randalierenden härter vorgehe als etwa gegen Gaza-Protestierende. Grundsätzlich gibt Garnett Starmer für die Anfangsphase eine gute Note: «Indem er jetzt die Symptome bekämpft, kann er sich vielleicht eine Atempause verschaffen – in der er dann ernsthafte Gespräche mit richtigen Experten führen kann, um die Ursachen der Probleme anzugehen.»
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