«Völlig unverständlich»Experten kritisieren Bund wegen Datenchaos bei IPS-Patienten
Der Bund hat keine aktuellen, schweizweiten Daten darüber, wer auf den Intensivstationen liegt. Dass die Datenerhebung nach fast zwei Jahren immer noch lückenhaft ist, wird scharf kritisiert.
Darum gehts
Die Intensivstationen in der Schweiz füllen sich rapide, mehrere Spitäler schlagen Alarm. Die fünfte Corona-Welle hat vergangene Woche schon erste Triagen ausgelöst. Zurzeit finden hitzige Diskussionen über die Triagekriterien und Formen einer Impfpflicht statt. Jetzt zeigt sich aber: Aktuelle, detaillierte Informationen dazu, wer im Moment auf den Intensivstationen liegt, hat der Bund nicht. Zuständig für die Erhebung solcher Daten wäre der Koordinierte Sanitätsdienst (KSD), der beim Verteidigungsdepartement angegliedert ist.
Auf Anfrage von 20 Minuten kann das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zum Thema Intensivpatienten nur einen Report vom 17. Oktober vorweisen. Darin werden zwar nähere Angaben zu den IPS-Patienten und Patientinnen gemacht, etwa hinsichtlich des Impfstatus (siehe unten). Diese umfassen jedoch nicht alle Intensivstationen der Schweiz und sind über eineinhalb Monate alt. Spätere Daten seien aufgrund langer Hospitalisierungsdauern und dadurch entstehender Meldeverzögerungen noch nicht vollständig und somit nicht aussagekräftig, erklärt BAG-Sprecherin Katrin Holenstein.
Covid-Übersicht des Koordinierten Sanitätsdienstes
Dies seien aber wichtige Informationen für Bund, Bevölkerung und Prognosen, sagt Thomas Van Boeckel, ehemaliges Task-Force-Mitglied und Professor an der ETH. Van Boeckel und seine Mitarbeitenden betreiben das ICU Monitoring: Ein Tool, welches die Auslastung der Intensivstationen in der Schweiz aufzeigt und Prognosen für die kommenden Wochen erstellt. Dafür nutzt Van Boeckel Daten des Koordinierten Sanitätsdienstes (KSD). Dieser befüllt auch das Covid-19-Dashboard.
In den Daten, welche die Spitäler verpflichtend an den KSD liefern, fehlen aber Angaben zu IPS-Patienten und Patientinnen, wie beispielsweise Alter oder Impfstatus. Zu sehen ist nur eine allgemeine Übersicht der Hospitalisationen. «Ich bin überrascht, dass wir nach zwei Jahren Pandemie immer noch nicht beschlossen haben, den Impfstatus systematisch in die Daten aufzunehmen, die von den Krankenhäusern an den KSD übermittelt werden», sagt Van Boeckel. «Wir tun dies für die Anzahl der Menschen an Beatmungsgeräten, warum dann nicht auch für die Anzahl der geimpften IPS-Patienten?»
«Evidenzbasierte Entscheidungen basieren auf Daten»
«Ich bin seit langer Zeit ein grosser Kritiker dieser Situation», sagt FDP-Nationalrat und Mitglied der Gesundheitskommission Marcel Dobler. Dafür habe er auch einen Vorstoss eingereicht, um die Datenerhebung im Epidemiengesetz zu regeln und es dem Bundesrat zu ermöglichen, die vollständigen Covid-Daten der Kantone einzufordern. Dieser wurde angenommen. «Trotzdem schafft es der Bundesrat anscheinend nicht, die Kantone dazu zu bringen, diese Daten zu liefern», so Dobler.
Er habe «totales Unverständnis» darüber, dass der Bundesrat keine klaren Weisungen dazu macht. Scheinbar sei es laut Dobler einfacher, die Wirtschaftsfreiheit und den Zugang zu Restaurants einzuschränken, als eine gute Datengrundlage zu schaffen. «Es kann nicht sein, dass wir nach eineinhalb Jahren Pandemie immer noch keine gründliche Datenlage haben. Ohne diese wichtigen Zahlen und Informationen ist es uns nicht möglich, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen», sagt Dobler.
Auch GLP-Nationalrat Martin Bäumle ist unzufrieden, dass nach so langer Zeit die Datenübersicht noch immer nicht genügend sei. Er nimmt den Bund aber in Schutz: «Das scheint vor allem an den Kantonen zu liegen, welche nur unvollständige Daten erheben.» Überhaupt sei es ein Fehler, auf die IPS-Belegung abzustellen: «Diese Daten sind in allen Belangen völlig ungeeignet, um die Pandemie und Massnahmen zu steuern. Darum modelliere ich seit 2020 die Viralität in der Bevölkerung und einen weiteren Indikator, der dem R-Wert vergleichbar ist, aber aktueller ist.»
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