Er kommt, sie nicht: Die Orgasmuslücke«Früher hatte ich nie einen Orgasmus beim Sex»
Während 95 Prozent der Hetero-Männer beim Sex fast immer zum Höhepunkt kommen, gelingt das ihren Partnerinnen viel seltener. Auch unsere Leserinnen kennen das Problem.
Darum gehts
95 Prozent der heterosexuellen Männer kommen laut einer US-Studie beim Sex immer oder fast immer, bei den Frauen sind es lediglich 65 Prozent. Man nennt das Orgasm Gap (deutsch: Orgasmuslücke).
Eine Basler Medizinstudentin arbeitet in einer Forschungsgruppe zum Thema Orgasm Gap in der Schweiz. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Lücke bei uns noch grösser ist.
Auch 20-Minuten-Leserinnen kennen das Problem, beim Partnersex nicht kommen zu können.
Sexologin Dania Schiftan erklärt, dass viele Frauen nur bei Stimulation der Klitoris zum Höhepunkt kommen, bei der Penetration jedoch nicht.
«Es ist viel seltener, dass Männer nicht zum Höhepunkt kommen. Frauen dagegen kommen zwar oft per Selbstbefriedigung, gehen in der Paarsexualität jedoch häufig leer aus», sagt Sexologin Dania Schiftan. Und in einer Studie aus dem Journal Archives of Sexual Behavior mit insgesamt rund 53’000 Befragten haben US-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2017 herausgefunden, dass 95 Prozent der heterosexuellen Männer immer oder fast immer kommen, während nur 65 Prozent der Frauen meist einen Orgasmus erleben. 20 Minuten hat bei seinen Leserinnen nachgefragt. Erfreulicherweise gaben viele an, keine Orgasmus-Schwierigkeiten zu haben – etliche wiederum kennen den «Orgasm Gap» nur zu gut:
Svenja 29 Jahre: «Um ehrlich zu sein, komme ich bei der Penetration nie. Und auch die Stimulation der Klitoris reicht bei mir nicht. Damit ich einen Orgasmus erlebe, muss mein G-Punkt stimuliert werden. Dabei wirkt mein Womanizer wahre Wunder, den ich übrigens auch beim Partnersex immer verwende. Mein aktueller Sexualpartner hat kein Problem damit: Schliesslich geht es doch darum, dass man Spass hat – und da ich ihm vermitteln konnte, dass ich schon immer nur so zum Höhepunkt gekommen bin, hat er sich nie daran gestört. Wieso ich nur so komme, ist mir schleierhaft. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich einen leicht geknickten Vaginaleingang habe? Sonst ist soweit aber alles normal bei mir. Mit meinen Freundinnen spreche ich regelmässig über das Thema Sex. Dass das mit dem Kommen manchmal nicht klappt, ist für uns alle normal. Manchmal fantasieren wir darüber, wie es wäre, für einen Tag ein Mann zu sein und mühelos einen Orgasmus erleben zu können. Ein klein wenig neidisch bin ich in dieser Hinsicht schon auf die Männer. Ich bin zurzeit nicht in einer festen Partnerschaft und spiele meinen Liebhabern Orgasmen ab und an auch vor. Denn manchmal wird man sonst halb wundgef*** und beendet das Liebesspiel lieber auf diese Weise. Früher spürte ich oft grossen Druck, kommen zu müssen. Heute sag ich es eher, wenn ich nicht mehr mag.»
Andrea, 32: «Ich komme vielleicht bei sieben von zehn Mal Sex zum Orgasmus. Mein Freund dagegen kommt immer – wie auch alle Männer, mit denen ich in der Vergangenheit geschlafen habe. Es ist für mich kein gutes Gefühl, wenn der Sexualpartner gekommen und müde ist und ich selbst einfach keinen Höhepunkt erreiche. Mein heutiger Freund kommt mir da zum Glück entgegen und fragt, was ich noch brauche. Es wäre schön, wenn alle Männer so reagieren würden, damit Frauen sich nicht sich selbst überlassen fühlen. Fast alle meine Freundinnen haben ebenfalls regelmässig Mühe, Orgasmen zu erleben. Was ich echt traurig finde: Einige von ihnen haben sogar Partner, denen es egal ist, wenn sie nicht kommen. Als ich jünger war, half es mir, auf eine Entdeckungsreise am eigenen Körper zu gehen: So fand ich heraus, was mir gefällt und was mich zum Orgasmus bringt. Dadurch konnte ich meinen Sexualpartnern genau sagen, was sie machen sollen – und kam folglich häufiger. Meinen ersten Orgasmus erlebte ich als 25-Jährige, mit Selbstbefriedigung, sechs Jahre nach meinem ersten Mal. Nur raus-rein bringt bei mir gar nichts: Ich brauche zusätzliche Stimulation, beispielsweise der Klitoris. Früher habe ich häufig Orgasmen vorgespielt, jetzt, mit mehr Erfahrung und mehr Selbstbewusstsein, mache ich das nicht mehr. Ich fände das auch nicht fair meinem Partner gegenüber, mit dem ich seit drei Jahren zusammen bin. Die Reaktion der Männer, wenn ich nicht kam, war ganz unterschiedlich: Einige fühlten sich dadurch in ihrer Männlichkeit gekränkt, andere fanden es schade und fragten nach, was sie anders machen können und einigen wenigen war mein ausbleibender Orgasmus schlicht egal.»
Isabella, 40: «Ich bin mittlerweile seit 13 Jahren mit meinem Partner zusammen und wir haben drei gemeinsame Kinder. Mein Partner kennt mich, ich kenne ihn und wir wissen, was es braucht, damit wir beide kommen. Deshalb habe ich heute immer einen Orgasmus! Das war jedoch nicht immer so: In anderen Beziehungen oder bei One-Night-Stands kam ich – so traurig es auch klingen mag – nie. Es hat sich auch nie jemand die Mühe gemacht, mich richtig zu befriedigen. Wieso das so war, weiss ich nicht. Vielleicht verstehen Männer einfach nicht, wie Frauen ‹da unten› funktionieren – oder aber sie sind egoistisch. Dass ich mich damals nie gross darüber beschwert habe, war sicher auch nicht hilfreich. Ich denke, Männer haben es grundsätzlich einfacher beim Sex. Ein kurzes Rein-Raus-Spiel und fertig. Und viele von ihnen sind dann zu müde, um über die sexuelle Befriedigung der Frau nachzudenken. Da ich früher keine Höhepunkte beim Sex hatte, habe ich Orgasmen regelmässig vorgespielt. Mit meinem Partner muss ich das längst nicht mehr tun. Doch auch wir mussten uns erst kennenlernen, offen über alles reden und diverse Techniken und Stellungen ausprobieren, bis wir im Bett zum Dreamteam wurden.»
Dass die Orgasmuslücke zwischen den Geschlechern so gross ist, regt Dania Schiftan auf: «Man bringt den Mädchen und Frauen leider immer noch bei, dass es einfach so ist!» Wenn es um Orgasmen geht, ist sie Expertin. Die Psychotherapeutin und klinische Sexologin hat zwei Bücher zum Thema geschrieben. Man könne üben, Orgasmen zu erleben, so Schiftan. Sie erklärt: «Die meisten Frauen besorgen es sich über die Klitoris und ziehen die Vagina nicht in die Selbstbefriedigung mit ein. Als Konsequenz davon kann diese im Geschlechtsakt keine schnelle Erregung entwickeln.»
Ein weiteres Problem sei, dass viele Frauen ihren Körper nicht kennen würden – oder dass sie sich aufgrund der Form oder Farbe ihrer Geschlechtsorgane unsicher fühlten. «Eine Frau muss lernen, wie ihr Geschlecht aussieht, dass es okay ist, wie es ist und vor allem: Was damit alles herausgeholt werden kann!» Diese Aufklärung soll gemäss Schiftan idealerweise schon in jungem Alter beginnen: In der Kita oder im Kindergarten sollen die Geschlechtsorgane den Kindern altersgerecht nähergebracht werden und auch das Lustvolle, Schöne der Sexualität aufgezeigt werden – nicht nur die Risiken und Gefahren, die sie mit sich bringt.
Orgasmus-Schwierigkeiten seien kein reines Frauenproblem, auch ein geringer Anteil der Männer leidet darunter: «Einige Männer sind es sich von der Selbstbefriedigung gewohnt, nur mit festem, schnellen Reiben zu kommen. Vaginen können dann zu weich für sie sein.»
Queers beklagten dieses Problem gemäss der Sexologin eher weniger – die unterschiedlichen Arten, wie Männer und Frauen einen Höhepunkt erlangen, kämen bei ihnen nicht zum Tragen. «Ich wünsche mir, dass jeder weiss: Orgasmen zu kriegen, kann gelernt werden – so wie man lernen kann, ein Musikinstrument zu spielen.»
«Die Orgasmuslücke zeichnet sich in der Schweiz deutlich ab»
Lenya Koechlin (25) ist Medizinstudentin in Basel und arbeitet in einer Forschungsgruppe zum Thema Orgasmuslücke in der Schweiz.
Lenya, erzähl uns von deiner Forschung zum Orgasm Gap in der Schweiz. Was sind die ersten nennenswerten Ergebnisse eurer Studie?
Im Rahmen meines Medizinstudiums erhielt ich die Möglichkeit, an der Seite von Doktor Gideon Sartorius und Professor Daniel Haag Wackernagel zur Orgasmuslücke in der Schweiz zu forschen. Bis jetzt haben über 2000 Personen an unserer Studie teilgenommen. Der Orgasm Gap zeichnet sich sehr deutlich ab. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass heterosexuelle biologische Frauen circa 40 Prozent weniger häufig zum Orgasmus kommen als heterosexuelle biologische Männer. Das würde sogar auf eine für die Schweiz noch grössere Lücke hindeuten, als bisherige Studien aufgezeigt haben. Diese Zahlen sind jedoch noch mit Vorsicht zu geniessen, die Umfrage ist noch nicht abgeschlossen. Interessierte dürfen gerne teilnehmen.
Was ist das Ziel deiner Studie?
Wir wollen nicht behaupten, dass ein Orgasmus beim Sexualakt unbedingt immer dazu gehören muss. Nichtsdestotrotz ist ein Orgasmus ein effektiver Indikator für sexuelle Befriedigung und somit auch eine gesunde Sexualität. Und diese wünschen wir uns für alle in einer sexuellen Aktivität beteiligten, völlig unabhängig von Geschlecht, Gender oder sexueller Orientierung. Kurz zusammengefasst: Wir möchten die Orgasmuslücke erforschen und hoffentlich in dazu beitragen, dass sie sich mehr und mehr schliesst.
Worin liegt das Problem? Wie kommt es zu dem Gap?
Wir haben verschiedene Thesen, die wir mit unserer Umfrage überprüfen: gesellschaftlich-kulturelle Einflüsse, Techniken, Bildung und – gerade bei der jüngeren Generation eine übermässige Orientierung an Pornos. Denn: Mindestens 90 Prozent der herkömmlichen Pornos zeigen keine klitorale Stimulation – wobei doch die meisten Menschen mit Vagina ohne sie gar nicht zum Orgasmus kommen können.
Was kann getan werden, um die Lücke zu verringern?
Kommunikation scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn Sexualpartner*innen einander ihre Wünsche und Bedürfnisse mitteilen, lernen sie, den Körper des jeweils Anderen besser zu verstehen. Mythen und Tabus müssen aufgehoben werden. Weiter ist eine Wissensvermittlung in Bezug auf die weibliche Anatomie dringend nötig. Sexualunterricht sollte nicht nur auf Verhütung und Schwangerschaft fokussieren, sondern er sollte auf Konsens, Lust und Diversität ausgerichtet werden.
Was ist mit Männern oder Queers?
Bisherige Zahlen unser Studie zeigen: Nur ein Bruchteil der heterosexuellen biologischen Männer haben Orgasmus-Schwierigkeiten. Zu den Queers sind leider fast keine Daten vorhanden. In Zukunft müsste dazu ganz dringend mehr gemacht werden. Bei Homosexuellen geht man davon aus, dass die Lücke kleiner ist, weil die Partner*innen aus eigener Erfahrung besser wissen, was sich für einen weiblichen oder männlichen Körper gut anfühlt.
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