Eskalierende Ukraine-Krise – «Für den grossen Mann im Osten läuft alles nach Plan»

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Eskalierende Ukraine-Krise«Für den grossen Mann im Osten läuft alles nach Plan»

Man solle die Ukraine mit Waffenlieferungen stärken, aber «mehr liegt nicht drin», sagt Toni Frisch. Der Schweizer alt Botschafter kennt das Land und den Konflikt mit Russland aus dem Effeff.

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau 2021.

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau 2021.

via REUTERS

Darum gehts

Toni Frisch kennt die Ukraine seit Tschernobyl. Später war er im Konflikt mit Russland bei Gefangenen-Austauschen ebenso dabei wie bei Friedensgesprächen. Was sagt Frisch zur heutigen angespannten Lage im Land? Der Schweizer alt Botschafter im Interview.

Herr Frisch, der Ukraine-Konflikt eskaliert. Überrascht Sie das?

Nein. Das Gegenteil würde mich überraschen. Denn Moskau bewirkt mit der Truppenkonzentration genau das, was es will: rotierende Aktivitäten in den Nato- und EU-Ländern und weltweite Aufmerksamkeit bis hin zu Überlegungen, Botschaftspersonal aus Kiew abzuziehen. Es läuft für den grossen Mann im Osten alles nach Plan.

Der da wäre?

Die Ukraine zu verunsichern und zu destabilisieren und ihr Abdriften Richtung Westen zu verhindern.

«Falsch gelaufen ist es in diesem Konflikt schon vor Jahren»

Toni Frisch

Was läuft derzeit falsch, Ihrer Meinung nach?

Für Russland läuft es derzeit vielleicht gar nicht so falsch. Aber auch der Westen zeigt sich erstaunlich koordiniert: Die EU-Länder und Nato-Partner wollen mit einer Stimme sprechen, was ja positiv ist. Falsch gelaufen ist es in diesem Konflikt schon vor Jahren. Nämlich dann, als EU und Nato die Träumereien von einem Assoziationsabkommen oder einer Nato-Partnerschaft im weiteren Sinne nicht schon im Kern erstickt haben.

Erst vor wenigen Wochen hat der ukrainische Präsident Selensky der Nation in Aussicht gestellt, er könne einen Nato-Beitritt erwirken. Derlei Äusserungen aus dem Vorgarten Russlands erscheinen mir gefährlich und höchst provokativ.

Denken Sie, wir sehen eine Eskalation bis zum Einmarsch in die Ukraine?

Nein. Dass Moskau einen Einmarsch im grössen Stil befehlen wird, denke ich nicht - nicht einmal in der Ostukraine. Dort haben pro-russische Separatisten vor acht Jahren zwei sogenannte Volksrepubliken ausgerufen, die stark von Russland abhängen. Wieso sollte man also hier einmarschieren? Russland besitzt den Donbass faktisch ja schon und kann sich das sparen.

«Eine neutrale Ukraine wäre wahrscheinlich eine gute Lösung, aber …»

Toni Frisch

Wäre eine neutrale Ukraine die Lösung für das Ende dieses Konfliktes mit über 13’000 Toten?

Das schlug auch der damalige Bundesrat Didier Burkhalter 2014 vor, als die Schweiz den OSZE-Vorsitzenden hatte. Eine neutrale Ukraine hätte auch Substanz, denn sie ist inklusive Ostukraine das flächenmässig grösste Land Europas. Es wäre wahrscheinlich eine gute Lösung, doch darüber spricht mittlerweile niemand mehr, auch nicht in der Ukraine. Dort würde man Präsident Selensky inzwischen als schwach ansehen, wenn er sich gegenüber Russland nicht stark zeigen würde.

Kann und soll die Schweiz sich prominenter einbringen?

Die Dienste der Schweiz sind sehr hoch zu halten und zu unterstützen. Als flächenmässig vielleicht kleines Land liegt sie im Herzen von Europa und kann Erfahrung und Stabilität einbringen. Ich bedauere es zwar, dass die Schweiz nicht mehr weiter prominent im Minsker-Prozess dabei ist. Doch auch so sind die Programme des EDA in der Ukraine ein substantieller und geschätzter Beitrag. Aber natürlich, es wäre schön, wenn die Schweiz etwa eine Vermittlerrolle bei einer Friedenskonferenz übernehmen könnte. Ich nehme an, solche Überlegungen werden auch debattiert. Aber auch andere Länder wollen solche Rollen spielen.

«Was hätte man machen sollen? Einen Weltkrieg vom Zaun reissen?»

Toni Frisch

Es gibt Stimmen, wonach sich ein Krieg mit Russland für einen korrupten Staat wie die Ukraine nicht lohnen würde. Was denken Sie?

Ich hoffe doch, dass es viele Stimmen gibt, die sich gegen einen Krieg aussprechen! Nicht, dass ich Pazifist wäre. Aber man muss sich bewusst sein, dass eine Intervention der Nato eine wirklich heikle Sache ist.

Ich wurde schon öfter gefragt, wieso die Nato bei der Annektierung der Krim 2014 nicht interveniert hatte. Aber was hätte man machen sollen? Einen Weltkrieg vom Zaun reissen? Auch jetzt gilt es, alles daran zu setzen und alle Möglichkeiten zu nützen, um das zu vermeiden.

Sollte die Ukraine aber doch in einen Krieg involviert werden, ist es auch jetzt sehr fraglich, was der Westen machen kann und will. Derzeit liefern verschiedene westliche Länder der Ukraine Waffen und Sicherheitsberater. Das finde ich richtig, man sollte die Ukraine stärken. Aber mehr liegt nicht drin. Der Nato sind die Hände gebunden, sie müsste im schlimmsten Fall bei einem Einmarsch in einen Nicht-Partnerstaat hilflos zuschauen.

«Ja, man sollte die Ukraine stärken. Aber mehr liegt nicht drin»

Toni Frisch

Wie denken Sie wird sich die Lage weiterentwickeln?

Das Szenario, das ich für möglich halte: Die militärische Basis in Belarus wird massiv verstärkt und damit eine weitere Drohkulisse für die nahe Ukraine aufgebaut. Diese dürfte ihre Truppenpräsenz im Norden entsprechend anpassen, damit man auch hier Kontrolle hat. Das dünkt mich jedenfalls etwas vom Wahrscheinlichsten. Und wie gesagt, in der Ostukraine erscheint mir ein Einmarsch für Russland militärisch sinnlos.

Letzten Oktober sagten Sie in einem Interview, «Nordstream 2» werde den Ukraine-Konflikt nicht wesentlich beeinflussen. Denken Sie das heute auch noch? Immerhin wird jetzt debattiert, die Ostseepipeline als Hebel gegen Russland zu nutzen.

Dazu stehe ich immer noch. Das Projekt steht bereits seit Jahren. Sollte es tatsächlich nicht gebaut werden, was ich nicht denke, werden die europäischen Länder dies wirtschaftlich sehr schnell spüren. Der Westen braucht das Projekt und er braucht Russlands Gas, von dem auch die Schweiz zu einem ansehnlichen Teil abhängig ist. Man wird auch hier eine Einigung finden müssen - zumal wir alle immer mehr Energie verbrauchen.

Zu Toni Frisch

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