Neue Gaza-OffensiveWie viele tote Zivilisten sind zu viele, Herr Vizebotschafter?
Der stellvertretende Botschafter Israels in der Schweiz nimmt Stellung zur neuen Gewalt im Gazastreifen.
Darum gehts
Israel hat den Krieg im Gazastreifen wiederaufgenommen, um Geiseln zu befreien.
Die USA unterstützen Israel, während die internationale Gemeinschaft Druck ausübt.
Israel sehe keine Zukunft mit der Hamas im Gaza und wolle den Status quo nicht akzeptieren, erklärt Vizebotschafter Ronen Medzini im Interview.
Es gebe längst viel zu viele zivile Opfer in diesem Konflikt, den Israel nicht begonnen habe.
Es gebe keine guten Lösungen für den Konflikt.
Herr Vizebotschafter Medzini, Israel hat den Krieg im Gaza wiederaufgenommen. Die weltweit sehr negativen Reaktionen darauf dürften Sie nicht überraschen …
Ronen Medzini: Ja, wie erwartet waren die meisten Reaktionen sehr kritisch, mit Ausnahme der Unterstützung durch die Trump-Regierung in den Vereinigten Staaten. Die grosse Mehrheit der internationalen Gemeinschaft und die UN übt Druck auf Israel aus. Aber die Tatsache ist, dass 59 israelische Geiseln immer noch in den Tunneln von Gaza unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden, und wir haben die moralische Verpflichtung, sie nach Hause zu bringen.
Wie wichtig ist die Trump-Regierung für Israel in dieser Situation?
Die Vereinigten Staaten sind unser stärkster und wichtigster Verbündeter. Normalerweise suchen wir bei Fragen unserer nationalen Verteidigung keine Zustimmung von irgendjemandem. In diesem Fall ist die Unterstützung der USA eine starke Botschaft der Legitimität, da sie versucht haben, den Weg für die zweite Phase dieses Waffenstillstands zu ebnen. Die USA machten zwei Vorschläge für den Übergang zu Phase zwei des Waffenstillstands, welche Israel akzeptierte, die Hamas jedoch ablehnte. Einer der Vorschläge war, die Verhandlungsphase zwischen den beiden Stufen zu verlängern und einige lebende Geiseln freizulassen, um so Phase A zu verlängern, während für Phase B verhandelt wird. Der zweite Vorschlag betraf eine vollständige Roadmap zur Beendigung dieses Krieges, die beinhaltete, dass die Hamas in Zukunft keine Rolle in Gaza mehr spielen sollte.
Dass die Hamas das nicht befürwortet, ist zu erwarten. Aber: Mit Donald Trumps Riviera-Vision ist ja sogar unklar, ob Palästinenser überhaupt eine Rolle spielen sollen in Gaza. Was ist Israels offizielle Haltung dazu?
Dass wir ausserhalb gewohnter Bahnen denken müssen, weil alle alten Lösungen nicht funktioniert haben. Dies könnte als ein tatsächlicher Plan wahrgenommen werden, um andere Länder dazu zu ermutigen, Palästinenser aufzunehmen. Und ich denke, Präsident Trump hat auch klar gesagt, dass keine Palästinenser gezwungen werden, das Land zu verlassen. Es geht nur um diejenigen, die bereit wären, zu gehen. Aber es könnte auch dazu dienen, um andere Länder zu eigenen Lösungsvorschlägen zu ermutigen. Israel wäre froh, jeden Plan in Betracht zu ziehen, der uns aus diesem Stillstand herausführt.
OK, aber was passiert jetzt? Die IDF hat bereits praktisch jedes Gebäude in Gaza zerstört und konnte dabei weder die Hamas auslöschen noch die Geiseln finden. Warum soll das nun klappen?
Es gibt hier keine guten Lösungen. Nur schlechte. Eine schlechte Lösung war die Stagnation, indem die Hamas sich weigerte, Geiseln freizulassen und den Waffenstillstand ausnutzte, um ihre Macht wiederaufzubauen, humanitäre Hilfe zu beschlagnahmen und zu verkaufen, nur um die Gewinne zu verwenden, um sich neu zu bewaffnen und mehr Kämpfer zu rekrutieren. Eine andere Lösung, ebenfalls nicht bevorzugt, wäre die Rückkehr zur aktuellen Situation, in der unsere Soldaten gefährdet sind, unsere Geiseln gefährdet sind und die schlecht für unsere Wirtschaft sowie für unseren Ruf ist. Aber wir mussten den Kurs der Realität ändern. Beim grossen Angriff am 18. März, der über Nacht stattfand, haben wir sechs hochrangige Hamas-Figuren ausgeschaltet. Leider scheint dieser militärische Druck die einzige Massnahme zu sein, die den Willen der Hamas-Führer beeinflusst, einen Kompromiss einzugehen.
Ja, aber zu welchem Preis? Jeder Angriff auf Hamas-Führer kostet Dutzende zivile Leben von Kindern und Frauen. Und egal, welche Position man zu dem ganzen Konflikt hat, es ist herzzerreissend, zu sehen, wie das weitergeht ohne eine Aussicht auf eine Lösung.
Sie haben absolut recht. Die Menschen in Gaza sind auch Opfer, ebenso wie die Bürger Israels. Israel tut alles, was es kann, um zivile Opfer zu minimieren, während die Hamas aus dicht besiedelten zivilen Zentren kämpft. Alle Zivilisten, die dort leiden, sind die Verantwortung der Hamas, die diesen Krieg begonnen hat und fortsetzt und sie als Schutzschilde benutzt. Wir setzen Massnahmen um, die keine Armee in irgendeinem Krieg jemals ergriffen hat, den Menschen im Voraus die genauen Koordinaten mitzuteilen, wo wir bombardieren werden, damit die Zivilbevölkerung von dort wegziehen kann. Aber während wir versuchen, die Hamas von den Zivilisten dort zu isolieren, benutzt die Hamas sie als Schutzschilde. Wenn sich also ein Hamas-Massenterrorist in einem Haus mit Zivilisten versteckt, sagen wir den Zivilisten, sie sollen wegziehen, und die Hamas lässt sie nicht. Wir sagen ihnen genau, wann die Rakete fallen wird, und sie fällt dort, und es gibt Opfer. Wer ist schuld?
Also mahlt die Menschenmühle weiter.
Wir sehen keine andere Lösung. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen. Und der einzige Akteur, der den Krieg beenden kann, ist die Hamas, die irgendeinen Vorschlag akzeptieren muss, der auf dem Tisch liegt. Wir haben eines sehr deutlich gesagt: Israel wird nicht zum Status quo von vorher zurückkehren. Am Tag danach wird es keine Hamas geben, es wird keine militarisierte extremistische Gruppe in Gaza geben. Das wird nicht passieren. Wir haben unsere Lektion auf die schrecklichste Art und Weise gelernt. Wir werden keine Lösung akzeptieren, die uns für ein paar Jahre Ruhe garantiert, wohl wissend, dass das gesamte Geld, das nach Gaza geleitet wird, letztendlich für den Wiederaufbau der Tunnel und die Stärkung dieser terroristischen Organisation verwendet wird. Und denken Sie dabei auch an die palästinensische Perspektive. Sie haben keine Zukunft mit der Hamas dort.
Auf Social Media wird behauptet, die Regierung Netanyahu könne nur überleben, solange der Krieg andauert.
Ich bin Angestellter dieser Regierung und kann mich nicht politisch äussern. Aber klar ist das überhaupt nicht. Man könnte argumentieren dass eine Lösung, welche die Vertreibung von Hamas und die Befreiung der Geiseln beinhaltet, Premierminister Netanyahu tatsächlich stärken würde. Bedenken Sie, dass alle israelischen Parteien, inklusive der Linken und der schärfsten Opposition, zu Netanyahu sich ausnahmslos einig sind, dass es kein Zurück zum Status quo mit der Hamas im Besitz der Kontrolle im Gazastreifen geben kann. Der Krieg wird enden, sobald Hamas dies auch endlich akzeptiert.
Dann lassen Sie mich anders fragen: Wie viele tote Zivilisten sind gemäss ihrer Meinung zu viele?
Es sind schon seit dem 7. Oktober viel zu viele, mit dem Massaker an 1200 unschuldigen Israelis, in diesem endlosen Streben, Israel auszulöschen. Das ist der grösste Unterschied zwischen der internationalen Perspektive und der israelischen: Wir sehen das auf lange Sicht. Kurzfristig sind es sehr viele Opfer, ja. Niemand will das. Aber auf lange Sicht ist eine Zukunft mit der Hamas für beide Seiten viel tödlicher als eine ohne. Denn wenn wir sie lassen, geht das für immer so weiter.
Mal ganz naiv gefragt: Warum gehen dann die IDF nicht systematischer vor? Wenn schon dieser gigantische logistische Aufwand getrieben wird, warum werden nicht Hamas-freie Schutzzonen eingerichtet, die man schrittweise ausbauen kann? Warum dieses chaotische Katz-und-Maus-Spiel in einer von traumatisierten Menschen bevölkerten Trümmerlandschaft?
Wir hatten Hamas-freie Zonen in der ersten Runde des Krieges, Gebiete, die unter israelischer Sicherheitskontrolle standen. Wir mussten uns im Rahmen der ersten Phase des Waffenstillstands zurückziehen. Aber nochmals, ich meine, das ist etwas, das der Logik einer kurz- bis mittelfristigen Lösung entspricht. Und wiederum, wir sind vollkommen offen für verschiedene Ideen. Aber eine Hamas-freie Zone von einem oder zwei Kilometern wird nicht ausreichen.
Die soeben angedrohte Vorgehensweise, Teile von Gaza zu besetzen, aber die gesamte Bevölkerung dort zu evakuieren, scheint wenig geeignet, um die Zahl der zivilen Opfer zu verringern.
Der beste Weg, die Zahl ziviler Opfer zu minimieren, ist die Beseitigung der Hamas. Während Israel langfristig nicht beabsichtigt, nach dem Ende der Hamas in Gaza zu bleiben, werden wir nicht davor zurückschrecken, den notwendigen Druck auszuüben, um unsere Geiseln zu befreien.
Die Art und Weise, wie Israel seine Ziele verfolgt, wird von vielen nicht als sauber wahrgenommen – oder nicht als so sauber, wie es möglich sein sollte.
Wir wissen nicht, wie wir es sauberer machen sollen. Ja, es ist eine unmögliche Situation, gegen einen Feind zu kämpfen, der unerbittlich ist, der nicht nur bereit ist, sein eigenes Volk zu opfern, sondern dies auch als Strategie tut. Es war bisher unmöglich, irgendeine logische Kriegsstrategie zu entwickeln, um es besser zu machen. Aber ein Problem ist auch, dass wir zusammen mit der internationalen Gemeinschaft gute Ideen und gute Mechanismen entwickeln könnten, um das zu tun. Aber anstatt über konstruktive Lösungen nachzudenken, ist die internationale Gemeinschaft komplett darauf fixiert, mit allen Mitteln einen Waffenstillstand zu erreichen. Das bedeutet im Wesentlichen, dass die Hamas bleiben darf und sich die Geschichte wiederholt. Ich meine, sie kritisieren Israel viel mehr als die Hamas, um Druck auf Israel auszuüben. Wir befinden uns also ziemlich allein im Kampf gegen die Hamas an der Grenze und versuchen, Druck von aussen abzuwehren. Die Hamas schöpft Kraft aus diesem Druck und verfestigt ihre Position, weil sie hofft, dass Israel unter diesem Druck nachgeben wird. Und das ist eine dieser unmöglichen Situationen, in denen wir uns befinden.
Hast du im Gaza-Konflikt mehr Verständnis für eine Seite als für die andere?
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