Gender-Gap in der Medizin«Risikofaktor für Alzheimer ist das Alter – aber auch, Frau zu sein»
Frauen und Männer unterscheiden sich, wenn es um Krankheitsverlauf oder Medikamentenwirkung geht. Doch erforscht wurde das bisher kaum. Eine Organisation will das Bewusstsein dafür schärfen – ein Interview mit Hirnforscherin Antonella Santuccione Chadha.
Darum gehts
Die Organisation «Women’s Brain Foundation» kämpft dafür, auf Geschlechterdifferenzen in der Medizin aufmerksam zu machen.
Diese Unterschiede betreffen besonders neurologische Krankheiten, bei denen Frauen oft falsch oder später diagnostiziert werden, was unter anderem zu höheren Gesundheitskosten führt.
Im Interview erklärt Ärztin und Neurowissenschaftlerin Antonella Santuccione Chadha, weshalb es diese Differenzen gibt – und warum zwei von drei Alzheimer-Patienten Frauen sind.
«Sind Sie auch gegen die Frauenquote?» Mit dieser Message provoziert die Organisation «Women’s Brain Foundation» auf Plakaten in mehreren europäischen Städten – auch in der Schweiz. Ziel der Kampagne: Das Bewusstsein für Geschlechterdifferenzen in der Medizin zu schärfen. Denn besonders bei neurologischen Krankheiten sei die Zahl der erkrankten Frauen sehr viel höher, als diejenige der Männer.
20 Minuten hat mit einer der Gründerinnen, Antonella Santuccione Chadha, gesprochen. Sie ist Ärztin und Neurowissenschaftlerin, arbeitete in unterschiedlichen Pharmaunternehmen, der Psychiatrie am Universitätsspital in Zürich, war vier Jahre lang bei Swissmedic und setzt sich für die Berücksichtigung von Frauen in Medizin und Forschung ein.
Frau Chadha, was ist der medizinische «Gender-Gap»?
Geschlechterdifferenzen spielen in der Medizin eine zentrale Rolle. Sie betreffen Symptome, den Krankheitsverlauf, die Reaktion auf Behandlungen und die Sicherheit von Medikamenten. Leider wurde der weibliche Faktor in der präklinischen Forschung, etwa bei Tierversuchen mit Mäusen, und in der klinischen Entwicklung mit menschlichen Testpersonen, nicht ausreichend berücksichtigt. Deshalb wissen wir wenig darüber, wie Medikamente bei Frauen wirken, wie sicher sie sind, oder aber wie sich Krankheiten bei Frauen entwickeln.
Wie macht sich dieser Gap bemerkbar?
Besonders bei neurologischen Krankheiten: 70 Prozent der Alzheimer-Patienten sind Frauen, bei Depressionen und Angstzuständen, sowie bei Multipler Sklerose und Migräne sind es jeweils 80 Prozent.
«Ich sage immer: Ein Risikofaktor für Alzheimer ist das Älterwerden – aber auch, als Frau geboren zu sein.»
Zwei von drei Alzheimer-Erkrankten sind also Frauen?
Ja. Alzheimer beispielsweise wird bei Frauen oft zuerst als Depression fehldiagnostiziert. Es heisst, sie sei gestresst, oder einsam, weil die Kinder aus dem Haus sind und der Ehemann älter wird – aber oft erkennt man Jahre später, dass es die Anfänge von Alzheimer waren. Solche Verzögerungen beobachten wir selbst in hoch entwickelten Gesundheitssystemen wie jenem der Schweiz. Ich sage immer: Ein Risikofaktor für Alzheimer ist das Älterwerden – aber auch, als Frau geboren zu sein.

«Ein wesentlicher Grund, warum die Neurowissenschaft und Psychiatrie gegenüber anderen Fachgebieten benachteiligt wurden, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Patienten in diesen Bereichen Frauen waren und immer noch sind», erklärt Chadha.
20min/Michael ScherrerWeshalb ist dies vor allem bei neurologischen Krankheiten der Fall?
Es gab lange ein Stigma und eine Vernachlässigung der Erforschung von Gehirn- und mentalen Krankheiten. Das Gehirn wurde lange Zeit als eine Art «geschlossene Box» betrachtet – und es ist unser kompliziertestes Organ. Ein weiterer wesentlicher Grund, warum die Neurowissenschaft und Psychiatrie gegenüber anderen Fachgebieten benachteiligt wurden, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Patienten in diesen Bereichen Frauen waren und immer noch sind.
«Früher dachte man halt, Frauen seien einfach kleinere Männer – bis man erkannte, dass Frauen ganz anders funktionieren.»
Wer ist also schuld daran? Die Männer?
Das werde ich oft gefragt. Es ist niemandes «Schuld». Die Medizin ist eine moderne Wissenschaft, die erst seit weniger als 100 Jahren in ihrer heutigen Form existiert. Wir lernen stetig dazu. Früher dachte man halt, Frauen seien einfach kleinere Männer – bis man erkannte, dass Frauen ganz anders funktionieren. Nun müssen wir diese Unterschiede auch anerkennen.
Hat dieser Gender-Gap Auswirkungen auf die Gesundheitskosten?
Natürlich. Wenn wir nicht von Anfang an gute Forschung betreiben und wirksame Medizin herstellen, muss am Ende das Gesundheitssystem die Probleme auffangen – mit Frauen, die später diagnostiziert werden, kränker sind, mehr Nebenwirkungen haben und an Wechselwirkungen zwischen Medikamenten leiden.

Frauen werden zwar älter als Männer, räumt Chadha ein. Aber: «Es handelt sich nicht um zehn Jahre, sondern nur ein paar wenige. Das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, ist für Frauen jedoch lebenslang höher, als für Männer.» (Symbolbild)
TAMEDIA AGAber Frauen werden auch älter als Männer …
Ja, aber es handelt sich nicht um zehn Jahre, sondern nur ein paar wenige. Das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, ist für Frauen jedoch lebenslang höher, als für Männer. Zudem: Frauen leben zwar länger, aber wie? Sie leben mit mehr Schmerzen, mehr Krankheiten und müssen mehr Medikamente nehmen.
Was also kann man gegen den Gender-Gap tun?
Die klinische Entwicklung geschieht nicht isoliert in einem Land, sondern weltweit – Studien werden international erstellt. Es bedarf also kollektiver Anstrengungen auf globaler Ebene. Forschende, Arzneimittelentwickler und Regulierungsbehörden müssen zusammenarbeiten.
Wie weit ist die Entwicklung in der Schweiz?
Die Schweiz spielt eine wichtige Rolle. Wir haben eine bedeutende Pharmaindustrie, die mittlerweile den Wert darin erkannt hat, mehr Forschung an Frauen zu betreiben. Schweizer Universitäten integrieren Geschlechter- und Gendermedizin in ihre Lehrpläne, und die Regulierungsbehörden sind sich des Problems bewusst und wollen es lösen. Zudem hat der Schweizerische Nationalfonds elf Millionen Franken bereitgestellt, um die Geschlechterforschung in den nächsten vier Jahren voranzutreiben.
Elf Millionen – das ist doch schon mal was?
Wissen Sie, wie viel das Elefantenhaus im Zoo Zürich gekostet hat? Fast 60 Millionen Franken. Denken Sie, dass man ein Problem, das die Hälfte der Schweizer Bevölkerung betrifft, mit elf Millionen lösen kann? Ich bin mir nicht sicher. Aber es ist ein Anfang.
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