Georgien: Aargauer (41) versorgt Demonstranten mit Pizzas

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StrassenschlachtenDemos in Georgien: Schweizer liefert Pizzas bis in die Morgenstunden

Erst das «Agentengesetz», dann das umstrittene Wahlergebnis, nun die Abwendung von der EU: In Georgiens Städten gehen nächtlich Zehntausende auf die Strasse und liefern sich teils heftige Kämpfe mit der Polizei. Das macht hungrig.

Der Aargauer Rainer Kyburz (41) versorgt Demonstranten in Georgien mit Pizzas.

20min/Tizian Fürer

Georgien: Darum gehts

  • In den grossen Städten Georgiens, vor allem in der Hauptstadt Tiflis, gehen erneut Abertausende auf die Strasse.

  • Sie protestieren gegen die Abkehr vom pro-europäischen Kurs – und liefern sich heftige Kämpfe mit der Polizei.

  • Mittendrin: Der Schweizer Rainer Kyburz, der die Demonstranten – und die Polizei – mit seinen Pizzas versorgt.

«Khachapuri» – ein mit Käse gefülltes Brot – ist das wohl bekannteste georgische Gericht überhaupt. Doch für die nimmermüden Demonstranten auf Tiflis' Strassen gibt es in der Nacht auf Dienstag ein anderes Schmelzgebäck: Pizza.

Die italienische Spezialität stammt aus dem Ofen des Aargauer Unternehmers Rainer Kyburz und wird so gewissermassen zu einem Symbol für den erbitterten Kampf für die Demokratie in der Südkaukasus-Republik – und für die Zugehörigkeit zu Europa.

«Hier denkt niemand ans Feiern»

20 Minuten erwischt Kyburz nach einer langen Demo-Nacht telefonisch. Der Gründer der Steinofen-Pizzeria «Popolo» habe mit seinem Staff bis in die Morgenstunden Pizzas an die Demonstranten geliefert, schildert er.

Rainer Kyburg macht sich mit der nächsten Ladung Pizzen auf den Weg zu den Demos.

Rainer Kyburg macht sich mit der nächsten Ladung Pizzen auf den Weg zu den Demos.

Privat

Die «Fabrika», eine zu einer modernen Begegnungszone umgebaute Fabrikhalle im Tifliser Stadtzentrum und gleichzeitig das Zuhause von «Popolo», sei ohnehin aus Solidarität mit dem Protest geschlossen. «Hier denkt niemand ans Trinken und Feiern, alle wollen auf die Strasse», so Kyburz.

Trotzdem hat er sich mit seinem Team dazu entschlossen, einfach weiterzubacken. «Es sind lange, kalte Nächte und es ist schwierig, rund um die Proteste Essen zu kriegen», erklärt der 41-Jährige. Also bringt er nun in Ladungen von 20 Pizzaschachteln die beliebte Verpflegung an die Protestfront.

Es geht um gewaltfreien Widerstand

Kyburz erklärt den Ablauf: Zwei Pizzaiolos backen im Akkord, er selbst liefert die Schachteln zu den Protesten und zwei weitere Mitarbeitende verteilen schliesslich die Kartons – samt motivierender Botschaften draufgeschrieben – unter der Masse. «Sie werden uns förmlich aus den Händen gerissen», erzählt er. Für ihn sei das eine gute Form von gewaltfreiem Protest: «Sie fordern ihr Recht ein, demonstrieren, kämpfen, wir liefern Pizzen so haben wir einen grösseren Impact.»

Ihm sei es lieber, dass seine vorwiegend junge Belegschaft sich in dieser Form am Protest beteiligt. Schliesslich hätten die Kämpfe längst beängstigende Züge angenommen: «Zuerst ist da die Polizei», erzählt er, «dann kommt eine Zone mit jeder Menge Feuer, gefolgt von gut organisierten Warriors, die der Polizei mit Feuerwerk und Laserpointern Paroli bieten – und hintendran folgen die gemässigten Demonstranten wie du und ich.»

Hungrige Strassenkämpfer: Demonstranten in Tiflis ergreifen sich einen der beliebten Pizza-Slices.
Sie stammen von «Popolo», der beliebten Pizzeria des Schweizers Rainer Kyburz.
Im Lokal werden die Pizzaschachteln mit motivierenden Botschaften versehen ...
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Hungrige Strassenkämpfer: Demonstranten in Tiflis ergreifen sich einen der beliebten Pizza-Slices.

Privat

«Auch Pizzaschachteln brennen»

Die «Popolo»-Crew sei hier «quasi der Supply, wir beliefern die Crew von hinten». Trotz grosser Vorsicht hätten inzwischen auch seine Mitarbeiter Tränengas abgekriegt. Kyburz: «Die Polizei scheint sehr hilflos und kennt nur ein Mittel – Gewalt.»

Dennoch beharrt Kyburz auf der friedlichen Form des Protests, womit er sich im Kleinen nahtlos an verschiedenste Formen des gewaltfreien Widerstands einreiht: In den letzten Tagen haben gleich mehrere Botschafter Georgiens in anderen Ländern ihr Amt niedergelegt, Fakultäten der Universität blieben aus Protest geschlossen, Regierungsmitglieder verfassen geschlossene Bekenntnisse in Richtung Europa.

«Wer weniger politische Hebelwirkung hat, bringt halt Tee – oder eben Pizza», sagt der Unternehmer aus Turgi AG und schmunzelt: «Wer will, wirft dann halt den Karton ist Feuer, schliesslich brennen Pizzaschachteln auch ganz schön.»

Warst du schon einmal in Georgien?

Gehts in der Nacht weiter?

Gleichzeitig stellt er aber klar: Sollten irgendwann auch mal die Polizisten seine Pizzen in die Hände kriegen, sei das auch in Ordnung: «Auch sie haben kalt und irgendwann Hunger.» Und er ist sich sicher, dass viele Polizisten nicht die eigenen Landsleute verprügeln wollen, werden wohl aber dazu gedrängt.

Ob es diese Nacht weitergeht, ist fraglich – aber anzunehmen. Schliesslich hat Noch-Präsidentin Salome Surabischwili zu täglichen Protesten aufgerufen. «Was genau passiert, und ob die Lokale überhaupt öffnen, erfährt man jeweils erst gegen Abend», so Kyburz. Er gehe aber schon davon aus, dass in der Nacht auf Mittwoch das nächste Kapitel des Strassenkrieges geschrieben werden wird.

Damit auch dann die Pizza-Versorgung sichergestellt ist, sucht er inzwischen Spenden in Georgien und in seiner Schweizer Community.

Die Proteste in Georgien

In Georgien haben die Parlamentswahlen am 26. Oktober 2024 zu erheblichen politischen Spannungen geführt, die in den aktuellen Protesten gipfeln. Hier das Wichtigste in Kürze:

Was geschah bei den Wahlen im Oktober 2024?

Am 26. Oktober 2024 fanden in Georgien Parlamentswahlen statt, bei denen die regierende Partei «Georgischer Traum» laut offiziellen Ergebnissen 53,9 Prozent der Stimmen erhielt. Die Opposition, bestehend aus mehreren pro-europäischen Parteien, erreichte zusammen 37,8 Prozent. Internationale Beobachter äusserten im Anschluss Bedenken hinsichtlich Unregelmässigkeiten, darunter Einschüchterung von Wählern und Stimmenkauf.

Wie reagierte die Opposition auf die Wahlergebnisse?

Die Opposition erkannte die offiziellen Ergebnisse nicht an und warf der Regierung Wahlbetrug vor. Sie forderte Neuwahlen und rief zu täglichen Protesten auf, um gegen die ihrer Meinung nach manipulierten Ergebnisse zu demonstrieren.

Wie hängen die Wahlen mit den aktuellen Protesten zusammen?

Die Unzufriedenheit über die Wahlergebnisse und die Wahrnehmung einer Annäherung der Regierung an Russland führten zu anhaltenden Protesten. Die Entscheidung der Regierung vergangene Woche, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 auszusetzen, verstärkte den Unmut der Bevölkerung, die mehrheitlich eine europäische Integration befürwortet. Dies führte zu einer Eskalation der Demonstrationen, bei denen es zu Zusammenstössen mit der Polizei kam.

Georgien: Sie schiesst mit der selbstgemachten Feuerwerks-Kanone auf die Polizei.

Wie positioniert sich die Präsidentin in dieser Situation?

Präsidentin Salome Surabischwili unterstützt die pro-europäischen Demonstranten und fordert Neuwahlen. Sie erkennt die Ergebnisse der Parlamentswahl nicht an und kritisiert die Regierung für ihren russlandfreundlichen Kurs. Fakt ist: Grundsätzlich braucht es zur Bildung des Parlaments mindestens einen Oppositionspolitiker bzw. eine Oppositionspolitikerin im Parlament, ansonsten ist dieses illegitim. Surabischwilis macht keinen Hehl um ihre Haltung: Solange dieser Umstand nicht gewährleistet ist, könne auch kein neuer Präsident bzw. eine neue Präsidentin gewählt werden – was wiederum bedeutet, dass sie selbst im Amt bleibt. «Georgischer Traum» hat unlängst seinen Präsidentschaftskandidaten lanciert: Der ehemalige GC-, FCZ-, Luzern-, Sion-, Aarau- und Basel-Stürmer Mikheil Kawelashvili.

Welche internationalen Reaktionen gibt es?

Die Europäische Union und die USA haben ihre Besorgnis über die Entwicklungen in Georgien geäussert. Die EU erwägt Sanktionen und die USA haben ihre strategische Partnerschaft mit Georgien ausgesetzt. Russland hingegen zieht Parallelen zu den pro-europäischen Protesten in der Ukraine und sieht in den georgischen Demonstrationen eine ähnliche Dynamik.

Was bedeutet das für Europa und den Westen?

Die politische Instabilität in Georgien könnte die Beziehungen des Landes zur EU und zum Westen weiter belasten. Eine mögliche Annäherung Georgiens an Russland würde die geopolitische Balance in der Region beeinflussen und könnte die westlichen Interessen im Kaukasus beeinträchtigen. Zudem könnten die Spannungen die ohnehin angespannte Sicherheitslage in der Region verschärfen.

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