Schwere Gewalt stieg im Corona-Jahr stark an

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20 Prozent mehr TötungsdelikteSchwere Gewalt stieg im Corona-Jahr stark an

Schwere Gewaltdelikte nahmen letztes Jahr weiter zu. Oft waren auch unter 18-Jährige daran beteiligt. Für Gewaltforscher Dirk Baier ist die Entwicklung besorgniserregend.

Trotz des Lock- und Shutdowns und weitgehenden Bewegungseinschränkungen stiegen die Fälle von schwerer Gewalt weiter an.
Auch in der Jugendkriminalität, etwa bei den versuchten und vollendeten Tötungsdelikten, stiegen die Fälle von 18 auf 39 Fälle.
Davon wurden in 36 Fällen Schneid- oder Stichwaffen als Tatwerkzeuge benutzt.
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Trotz des Lock- und Shutdowns und weitgehenden Bewegungseinschränkungen stiegen die Fälle von schwerer Gewalt weiter an.

JSD Basel-Stadt

Darum gehts

  • Das Bundesamt für Statistik hat die Schweizer Kriminalstatistik aktualisiert.

  • Zunahmen gab es insbesondere bei schwerer Gewalt, Jugendkriminalität und Raubstraftaten.

  • Für Gewaltforscher Dirk Baier ist die Entwicklung besorgniserregend.

  • Um Taten sexualisierter Gewalt zu verhindern, brauche es viel mehr Prävention und Sensibilisierung, sagt Anna-Béatrice Schmaltz von der Feministischen Friedensorganisation cfd.

Im Corona-Jahr 2020 nahmen Delikte mit schwerer Gewaltanwendung stark zu. So stieg etwa die Zahl der (versuchten) Tötungsdelikte im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent an. Das zeigt der Jahresbericht der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), den das Bundesamt für Statistik (BFS) am Montag veröffentlicht hat. Doch auch bei den Straftaten gegen die sexuelle Integrität ist eine Zunahme zu verzeichnen – ebenso von Straftaten, die von unter 18-Jährigen ausgeübt werden (siehe Box unten).

Die Jugendkriminalität steige seit 2015 konstant, es sei aber überraschend, dass sich der Trend im Corona-Jahr fortsetzt, sagt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW. «Obwohl wir während mindestens sechs Wochen auf das unmittelbare geographische Umfeld begrenzt waren, stieg die Gewalt im öffentlichen Raum an.» Die grosse Frustration und der Stress über die eingeführten Corona-Massnahmen spielten dabei eine Rolle: «Junge Menschen erleben die derzeitigen Einschränkungen am heftigsten.»

Besorgniserregende Entwicklung

Seit einigen Jahren beobachte er eine Entwicklung, die besorgniserregend sei: «Für einen gewissen Typ von Männern scheint es attraktiv, wertvoll und richtig, sich durchzusetzen, sich zu nehmen, was ihnen angeblich zusteht – egal was die Konsequenzen sind», sagt Baier. Statt Probleme kommunikativ zu lösen, werde mit Aggression, verbaler Herabsetzung oder Gewalt reagiert.

Die Zunahme der schweren Gewaltdelikte könne aber zumindest teilweise auf die durch Corona induzierte allgemeine Unsicherheit über die berufliche Zukunft oder das Einkommen zurückführen sein, so der Gewaltforscher. «Bei vielen Personengruppen, die jetzt über Monate täglich extremem Stress ausgesetzt waren könnte Corona ein Auslöser für Gewalt gewesen sein.»

Hohe Dunkelziffer im Bereich häusliche Gewalt

Einfache Lösungen, um dem Problem Herr zu werden, gebe es nicht, sagt Baier: «Es braucht einen konzertierten Aktionsplan gegen Jugendgewalt, zu dem sich Bund, Kantone und Gemeinden verpflichten und den die verschiedenen Akteure – wie Schulen, Polizei oder die Soziale Arbeit – gemeinsam umsetzen.»

Ob die Hemmschwelle, gewisse Delikte zu begehen, allgemein gesunken sei, sei ohne weitere Befragungsstudien aber schwierig zu sagen, sagt Baier. «Gerade bei den Sexualdelikten kann es gut sein, dass in Anbetracht der MeToo-Bewegung mehr Anzeigen eingereicht worden sind.» Andererseits könne es sein, dass auch die Übergriffe zunehmen, wobei hierfür beispielsweise die Zunahme aggressiver Männlichkeit eine Erklärung darstelle. Das Dunkelfeld sei in diesem Bereich wie auch bei der häuslichen Gewalt jedoch noch immer gross.

Falsche und gefährliche Mythen

Die Taten, die in der polizeilichen Kriminalstatistik aufgeführt sind, seien nur die Spitze des Eisbergs der angezeigten Sexualdelikte, sagt Anna-Béatrice Schmaltz von der Feministischen Friedensorganisation cfd. «Viele Taten werden nie bei der Polizei gemeldet oder angezeigt. Das muss sich ändern.» Sexualisierte Gewalt finde häufig in persönlichen Nahbeziehungen und im häuslichen Bereich statt. «Der vermehrte Verbleib Zuhause aufgrund der Corona-Krise kann hier einen negativen Einfluss haben.»

Um Taten sexualisierter Gewalt zu verhindern, brauche es aber viel mehr Prävention und Sensibilisierung, sagt Schmaltz. «Wir müssen über stereotype Geschlechterbilder und Mythen sprechen, beispielsweise in Aussagen wie: ‹Wenn du einen kurzen Rock trägst, dann bist du selbst schuld›. Es muss aufgezeigt werden, dass diese Mythen falsch und gefährlich sind.»

Zudem brauche es in der Revision des Sexualstrafrechts eine «Ja heisst Ja»- Lösung. «Sexuelle Handlungen sind nur einvernehmlich, wenn alle Beteiligen Ja dazu sagen», sagt Schmaltz. Das müsse sich im Gesetz widerspiegeln.

Schwere Gewaltdelikte

Letztes Jahr wurden insgesamt 1668 schwere Gewaltstraftaten verzeigt, das sind 137 Straftaten mehr als 2019 (+8.9 Prozent). Der Anstieg ist insbesondere auf die Zunahme der versuchten Tötungsdelikte (+45 Straftaten), der Vergewaltigung (+34) und der schweren Körperverletzung (+32) zurückzuführen.

Um 329 Prozent stieg die Zahl von Fällen schweren Raubs: Wurden 2019 sieben Raubüberfälle zur Anzeige gebracht, waren es letztes Jahr 30.

Sexualdelikte

Auch bei den Straftaten gegen die sexuelle Integrität ist eine signifikante Zunahme der Fälle zu verzeichnen. So sind im Pandemie-Jahr 8 Prozent mehr Anzeigen wegen sexuellen Handlungen mit Kindern (1257 Fälle, +8%) eingegangen. Auch wegen sexueller Nötigung (683 Fälle, +9%), Vergewaltigung (713 Fälle, 5%) und Exhibitionismus (580 Fälle, +12%) mussten die Behörden häufiger einschreiten.

Ebenfalls zugenommen haben die polizeilich erfassten Fälle von sexueller Belästigung. Gemäss Statistik stieg die Zahl der Fälle von 1243 auf 1435 (+15 Prozent).

Häusliche Gewalt

2020 haben die versuchten Tötungen im Bereich Häusliche Gewalt um einen Fünftel zugenommen: 28 Menschen sind gestorben, 61 Menschen haben überlebt, davon 43 Frauen und Mädchen. Waren es im Jahr 2019 noch 19’669 Straftaten im Zusammenhang von häuslicher Gewalt, wurden für das Corona-Jahr 20'123 Fälle verzeichnet.

Jugendkriminalität

Zugenommen hat auch die Anzahl der Delikte, die von unter 18-Jährigen ausgeführt wurden. Auffallend ist, dass Minderjährige immer mehr schwere Gewalt ausüben: Etwa bei den versuchten und vollendeten Tötungsdelikten verdreifachte sich die Zahl der Delikte mit Messern oder anderen Stichwaffen (36 Fälle). Auch bei schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen werden laut der neuen Zahlen weniger die Fäuste, aber immer häufiger Schneid-, Stich oder Schlagwaffen verwendet.

Jugendliche beteiligten sich laut der Kriminalstatistik auch häufiger an Angriffen auf andere Personen (468 Fälle, +75) oder verübten Raubüberfälle (648 Fälle, +213).

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