Israel gegen SyrienGibt es Krieg im Nahen Osten, Herr Tilgner?
Gestern griff Israel überraschend das Nachbarland Syrien an, Syrien droht mit Vergeltung. Ist das der Anfang des Flächenbrands im Nahen Osten? 20 Minuten fragte Nahostexperte Ulrich Tilgner.
Der Syrienkonflikt weitet sich gefährlich aus. Israelische Kampfflugzeuge griffen gestern zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage das Nachbarland Syrien an. Ziel des Luftschlags soll eine Lieferung iranischer Raketen an die libanesische Hisbollah-Miliz gewesen sein. Gemäss UNO-Beobachtern kamen dabei mindestens 42 syrische Soldaten ums Leben. Syrien droht Israel jetzt mit Vergeltung.
Wie gefährlich sind diese neuen Vorgänge? 20 Minuten fragte den Nahostexperten Ulrich Tilgner.
Herr Tilgner, wie beurteilen Sie die aktuelle Lage im Nahen Osten? Droht nach dem israelischen Beschuss auf Damaskus jetzt der viel zitierte Flächenbrand in der Region?
Ulrich Tilgner: Nein, das denke ich nicht. Der syrische Bürgerkrieg kann sich nur dann zu einem Flächenbrand ausweiten, wenn in den übrigen Ländern ähnlich unzumutbare Zustände herrschen. Diese gibt es derzeit zwar im Irak,der tatsächlich auseinanderzubrechen droht. Doch derzeit läuft die Politik im Nahen Osten nach dem alten Grundsatz: «Der Feind meines Feindes ist mein Freund.»
Wieso fanden diese dritten, militärisch umfangreichsten Aktionen Israels in Syrien seit dem Jom-Kippur-Krieg gerade jetzt statt?
Der syrische Präsident Baschar al-Assad hat in den letzten Monat Boden gutgemacht. Er versucht gerade im Landesinnern einen Korridor zu errichten, der die Hauptstadt Damaskus mit seinen Anhängern in den Alawiten-Gebieten verbindet. Gleichzeitig weicht die syrische Opposition immer mehr zurück, denn die Unterstützung aus Saudi-Arabien und Katar lässt nach. Diese Entwicklung hat Israel mit dem Beschuss Syriens nun unterbrochen: Es wandte sich damit gegen die libanesischen Hisbollah-Kämpfer, die den Korridorbau Assads im Grenzgebiet zu Libanon unterstützten. Insofern griff Israel zugunsten der syrischen Rebellen ein.
Dann hat Israel im Gegensatz zu den USA Stellung bezogen?
Höchstens inoffiziell - und mit dem Segen der USA. Israel greift in den syrischen Konflikt ein, unterstützt die Opposition und schwächt gleichzeitig Assad und die Hisbollah.
Sollte Israel keine Angst vor einer Gegenreaktion aus Syrien oder dem Iran haben?
Auch wenn Israel die Raketenabwehr in Stellung bringt und den Luftraum über den Grenzgebieten schliesst – man weiss: Eine zweite Front aufzutun, das kann sich Syrien nicht leisten. Und der Iran hat schon genug innere Probleme, der braucht derzeit nicht noch äussere.
Angesichts möglicher C-Waffen-Einsätze: Sollen die USA, soll die Nato in Syrien eingreifen?
Assad sagte, dass er nie C-Waffen einsetzen würde, nicht einmal gegen Israel. Doch wieso hat er sie denn? Wer solche Waffen hat, der setzt sie auch ein. Dennoch wäre ein militärisches Eingreifen des Westens in Syrien falsch. Vielmehr muss er sich mit Russland auf einen gemeinsamen diplomatischen Weg einigen. Es gilt, einen politischen Kompromiss zu erzwingen und dann Wahlen durchsetzen.
Was wäre der Worst Case in Syrien und im Nahen Osten – und wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?
Das Schlimmste für Syrien wäre ein Erfolg zerstrittener Rebellen, die keine neuen Strukturen in Damaskus schaffen können. Das würde noch mehr Chaos mit zigtausend Toten bringen und den Nahen Osten schwer belasten. Insgesamt ist die Region durch den vorsichtigen Rückzug der Amerikaner geprägt. Grosse Kriege sind nicht zu erwarten, aber die Auseinandersetzungen in einzelnen Ländern dürften zunehmen.