Sexuelle Belästigung: Götter in weissen Kitteln – «Gewisse Ärzte benehmen sich wie Neandertaler»

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Sexuelle BelästigungGötter in weissen Kitteln – «Gewisse Ärzte benehmen sich wie Neandertaler»

Gesundheitspersonal muss oft sexuelle Belästigung durch seine Vorgesetzten dulden. Laut einem Experten fühlen sich viele Ärzte unantastbar. 

Sexuelle Belästigung im Gesundheitswesen ist weit verbreitet. Oft werden junge Ärztinnen Opfer ihrer Vorgesetzten.
Laut Pierre-André Wagner vom Schweizer Verband für Pflegefachfrauen und -männer ist das auf die straffe Hierarchie und die patriarchalischen Werte der Ärzte zurückzuführen. «Stellt man sich ihnen in den Weg, riskiert man seine Stelle.»
Dass der Ärzteberuf aktuell eine Feminisierung erlebe, passe vielen nicht. Die sexuelle Belästigung sei auch ein Ausdruck ihres Widerstandes dagegen. «Sie wollen zeigen, wo der Hammer wirklich hängt», sagt Wagner. (Symbolbild)
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Sexuelle Belästigung im Gesundheitswesen ist weit verbreitet. Oft werden junge Ärztinnen Opfer ihrer Vorgesetzten.

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Darum gehts

Sexuelle Belästigung ist in der Gesundheitsbranche weit verbreitet. Die Opfer sind überwiegend weiblich, die Täter sind jedoch nicht nur die Patienten. Auch Ärzte belästigen ihre Mitarbeiterinnen sexuell, wie ein Leser-Aufruf von 20 Minuten zeigt.

Die Arztsekretärin G.S.* hat bereits mehrere solche Fälle erlebt. Insgesamt vier Mal habe sie ihren Job in einer Praxis gekündigt, nachdem ihr Vorgesetzter sie sexuell belästigt habe. Ein Arzt habe ihr beispielsweise eigene Nacktbilder gezeigt. «Und das sind nicht einfach Einzelfälle. Es passiert massenhaft», sagt G.S.*

Von einem Oberarzt belästigt wurde auch die Laborantin A.S.*: «Er hörte nicht auf, mich mit privaten Fragen zu durchlöchern und mich ständig bei meiner Arbeit aufzusuchen.» Sie habe sogar Schichten tauschen müssen, um in Ruhe arbeiten zu können. Da er mit der Chefetage, die ausschliesslich aus Männern bestanden habe, befreundet gewesen sei, habe sie die Vorfälle für sich behalten. «Ich fürchtete, nicht ernstgenommen zu werden oder gar, meine Stelle zu verlieren.»

Sexuelle Belästigung sei «sehr verbreitet»

Pierre-André Wagner, Leiter des Rechtsdienstes vom Schweizer Verband für Pflegefachfrauen und -männer (SBK-ASI), bestätigt, dass sexuelle Belästigung im Gesundheitswesen «sehr verbreitet» sei. Laut einer Studie des SECO und des eidgenössischen Gleichstellungsbüros ist jede zweite Frau bereits Opfer sexueller Belästigung geworden. Zudem berichtete der Tagesanzeiger im Februar, dass laut einer Umfrage knapp 400 junge Ärztinnen von sexueller Belästigung im Arbeitsumfeld betroffen seien.

Belästigungen im Ärztemilieu seien vor allem auf die straffe Hierarchie und die patriarchalische Werteordnung in der Medizin zurückzuführen, so Wagner. «Junge Ärztinnen sind ihren Vorgesetzten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wer sich dem Chef in den Weg stellt, riskiert seine Karriere. Oder anders gesagt: Gewisse Ärzte benehmen sich wie gesellschaftspolitische Neandertaler.»

«Feminisierung des Arztberufes triggert»

Ausserdem erlebe der Arztberuf aktuell eine starke Feminisierung, sagt Wagner. Denn weit über 50 Prozent der Medizinstudierenden seien mittlerweile Frauen. «Und das bedroht die konservativen Vorstellungen der Ärzte.» Deshalb könne die sexuelle Belästigung auch als Ausdruck eines Widerstandes der Ärzte gegen die Feminisierung ihres Berufes gesehen werden. «Sie wollen zeigen, wo der Hammer wirklich hängt.»

Ein ähnliches Arbeitsklima herrschte vor Jahren in der zivilen Luftfahrt, so Wagner. «Dazumal waren die Piloten, wie die Ärzte noch heute, unantastbar und erlaubten sich alles.» Mit einer konsequenten Politik habe man den Piloten klar gemacht, dass sie keine Götter seien und sich an gewisse Regeln zu halten hätten. Dieser Umgang, inklusive scharfen Sanktionen, würde die Zustände im Gesundheitswesen verbessern, sagt Wagner. «Gibt es jedoch keinen tiefgreifenden Kulturwandel, wird der Personalmangel noch akuter. Und das wiederum hat negative Auswirkungen auf das Gesundheitssystem.» Es sei ein regelrechter Teufelskreis.

«Steigende Bereitschaft, Vorfälle zu melden»

Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) bestätigt, dass Gesundheitspersonal von sexueller Belästigung betroffen ist. Wie Marcel Marti, stellvertretender Geschäftsführer des VSAO, sagt, verfügt der Verband jedoch über keine Zahlen. «Bei uns gilt aber in jedem Fall Nulltoleranz, was sexuelle Belästigung anbelangt.» Und zumindest eine positive Entwicklung gebe es, so Marti: «Die Bereitschaft der Opfer hat zugenommen, über die Vorfälle zu reden.» Mitglieder des VSAO könnten Vorfälle (siehe Box) demnächst auch bei einer Online-Meldestelle deponieren.

*Namen der Redaktion bekannt

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Hier findest du Hilfe:

Belästigt.ch, Onlineberatung bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz

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