Grüne-Kandidatur – «Überraschungen sind möglich»

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BundesratswahlenGrüne-Kandidatur – «Überraschungen sind möglich»

Die Grünen greifen am 13. Dezember mit Nationalrat Gerhard Audrey einen Sitz der FDP an. Politologin Sarah Bütikofer sagt, welche Chancen sie der Partei gibt.

«Die Wahrscheinlichkeit, dass am 13. Dezember alles in geordneten Bahnen läuft, ist gross. Doch Überraschungen sind möglich»: Politologin Sarah Bütikofer von der Universität Zürich.
Der Freiburger Grüne-Nationalrat Gerhard Andrey versucht es. Die Aufnahme zeigt ihn während der Frühlingssession 2023.
Bei Bundesratswahlen könne eine Dynamik entstehen, die niemand vorausgesehen habe, sagt Politologin Sarah Bütikofer. Die Nicht-Wiederwahl von Ruth Metzler 2003 sei so ein Fall gewesen. 
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«Die Wahrscheinlichkeit, dass am 13. Dezember alles in geordneten Bahnen läuft, ist gross. Doch Überraschungen sind möglich»: Politologin Sarah Bütikofer von der Universität Zürich.

Tamedia

Darum gehts

  • Der Freiburger Grüne-Nationalrat Gerhard Andrey kandidiert für den Bundesrat. Er ist der einzige Grüne, der Interesse bekundet hat.

  • Die Kandidatur gilt als chancenlos. Doch laut Sarah Bütikofer sind Überraschungen möglich.

  • Die Wiederwahl amtierender Bundesratsmitglieder sei nicht sakrosankt, sagt sie.

Eine Woche nach den Wahlen hat sich die Grüne-Fraktion entschieden: Die Partei tritt bei den Bundesratswahlen vom 13. Dezember an. Das Klima gehöre in den Bundesrat. Bis Freitagmittag konnten sich Interessierte melden. Ein einziger hat es getan. Grüne-Kandidat ist der Freiburger Nationalrat und IT-Unternehmer Gerhard Andrey (47).

Die Grünen wollen einen FDP-Sitz angreifen, denn die Partei sei mit zwei Sitzen im Bundesrat «so stark übervertreten wie noch nie zuvor». Die SP-Sitze tasten die Grünen nicht an, sagen sie.

Die Grünen haben keine Chancen auf einen Bundesratssitz, so der Tenor. Sehen Sie das auch so?
Die Chancen sind realistischerweise sehr klein. Denn SVP und FDP wollen keinen Grüne-Bundesrat auf Kosten der Rechtsparteien. Mitte und SP wiederum sind darauf angewiesen, dass ihre Bundesratsmitglieder auch von SVP und FDP wiedergewählt werden. Allerdings können sich bei Bundesratswahlen immer Dynamiken entwickeln, die man nicht voraussehen kann. Das gab es auch in der Vergangenheit schon.

Zum Beispiel?
Die Wahl von Christoph Blocher 2003 war so ein Fall. Noch überraschender waren die Nicht-Wiederwahl Blochers und die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf vier Jahre später. Die Wahrscheinlichkeit, dass am 13. Dezember alles in geordneten Bahnen läuft, ist gross. Doch Überraschungen sind möglich.

Wie könnte so eine Dynamik aussehen diesmal?
Denkbar ist vieles. Wenn beispielsweise der Grüne-Kandidat bemerkenswert viele Stimmen bekommt und ein FDP-Bundesratsmitglied bemerkenswert wenig, dann könnte das zu Reaktionen bei den nachfolgenden Wahlgängen führen.

Wann bekommen die Grünen einen Bundesratssitz?

Trotzdem sind die Chancen der Grünen klein. Darum haben fast alle abgesagt. Und Gerhard Andrey ist erfolgreicher Unternehmer, er will kaum Bundesrat werden, oder?
Es hat schon mehrmals aussichtslose Grüne-Kandidaturen gegeben, etwa die von Luc Recordon 2007 und 2008. Wenn jemand bei so geringen Erfolgsaussichten kandidiert, braucht es Mut, Ehrgeiz und eine dicke Haut. Nicht alle können das. Gerhard Andrey traue ich es zu. Und für den Ernstfall müsste er vorbereitet sein, ich gehe davon aus, dass er im Fall einer Wahl diese annehmen würde.

Die grossen Parteien sagen, dass sie keine amtierenden Bundesräte abwählen. Ist das so sakrosankt?
Diese ungeschriebene Übereinkunft besteht heute, weil die vier grössten Parteien ihre Sitze halten wollen und sich gegenseitig unterstützen. Eine Rolle spielen dabei die Traumata von Mitte und SVP, die in den letzten 20 Jahren je eine Nicht-Wiederwahl erlitten haben. Und auch die der SP, die mehrmals ihre Wunsch-Kandidaturen nicht durchbrachte. Eine Nicht-Wiederwahl von Regierungsmitgliedern ist selten, doch sie muss möglich sein. Das Volk wählt auch manchmal jemanden aus einer Kantonsregierung ab. Sakrosankt ist diese Regel also nicht. Man darf auch nicht vergessen, dass alle 246 Parlamentsmitglieder frei sind, zu wählen, wen sie wollen. Unabhängig vom Fraktionsentscheid.

Sollte in den nächsten Jahren jemand von den Grünen, Grünliberalen oder ein zweites Mitte-Mitglied Bundesrat werden, wäre dies das Ende der heutigen Zauberformel?
Faktisch schon. Die Zauberformel gründet aber bewusst nicht auf einem Proporz-System. Sonst wäre die SVP heute näher bei drei Sitzen als die FDP bei zwei und die Grünen hätten einen Sitz. Bei der Bundesratszusammensetzung geht es um Konkordanz, das Gremium muss funktionieren. Allerdings unterscheidet sich das heutige Parteiensystem stark von jenem Ende der Fünfzigerjahre. Die vier Bundesratsparteien vertraten damals mehr als 80 Prozent der Wählerschaft, und die kleinen Parteien erreichten landesweit bei weitem nicht Wähleranteile wie heute Grüne und Grünliberale. Deshalb wird es in absehbarer Zeit wohl zu Veränderungen in der Bundesratszusammensetzung kommen.


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